Ich ziehe meine Bahnen. Schaue auf den Kachelboden. Zähle die Meter. Lasse das Denken sein. Immergleiches Bewegen von Schlag zu Schlag, Wende zu Wende, mit immergleicher Kraft. Ich bin vormittags im Olympiastadion, wo ich schon damals meine Bahnen zog, im Schwimmverein. Bald schwamm ich in der Stadtauswahl. Ich mochte keine Wettkämpfe vor Publikum, man wartete viel und schwamm nur kurz. Mir gefiel das stundenlange Training mit den besten Schwimmern. Im Wasser schaltete ich ab und um, bis ich ich ein anderer war als der, der hineingestiegen war.
Ziehe ich in diesem Sommer im Olympiastadion meine Bahnen, gelingt mir das Abschalten nur, wenn ich in Richtung Norden schwimme, das Fußballstadion im Rücken. Auf dem Rückweg Richtung Süden, Richtung Stadion und Sprungbecken, habe ich Bilder von damals vor Augen. Im Schwimmstadion hat sich wenig verändert. Heute lümmeln vier Bademeister am Beckenrand. Damals gab es Schwampel und Handtke, Handtke in schwarzen Wellen gebürstet, Schwampel hinter der Säufernase. Sie kannten die Vormittagsgäste persönlich. Ab Mittag wurde geplanscht oder Arschbombe gehopst.
Pausenlos sprang Willi Rose vom Einer und vom Dreier. Er hatte graue lange Haare, die er eigentlich glatt nach hinten legte, nur nach dem Abtrocknen fielen sie vom Mittelscheitel ins Gesicht und über Ohren und Augen, so dass er sie dauernd nach hinten strich. Willi Rose sprang abwechselnd mit Reinhard Rauer, dem eleganten Zwanzigjährigen mit klarem Seitenscheitel. Willi Rose hatte sein Leben lang in ungefähr drei Produktionen pro Jahr gespielt. Der Gipfel seiner Karriere lag hinter ihm. Manchmal tauchte er noch in Fernsehspielen auf. Reinhard Rauer hatte die Schauspielschule verlassen und spielte kleine Fernsehrollen. Es war Ende der sechziger Jahre. Der alte und der junge Schauspieler hatten sich nichts zu sagen. Kein Wort.
In diesem Sommer, da ich im Olympiastadion schwimme, schaue ich alte Filme an. Vor ein paar Tagen die Geschichte einer Schauspielerin und ihrer Theatertruppe, die zur Unterhaltung deutscher Frontsoldaten durch besetzte Länder tingelte. In der Hochzeitsnacht verspricht sie ihrem Mann, einem Soldaten, ihren Beruf an den Nagel zu hängen. Theaterkollegen überreden sie, dem Vaterland zuliebe wieder zu spielen, in Griechenland, wo der frische Ehemann Dienst tut. Dort sieht er seine Frau auf der Bühne. Der Konflikt löst sich vor Ort, im Hintergrund die Akropolis, in Harmonie auf. Liebe zum Mann, zum Vaterland und zu den Soldaten schließt sich nicht aus. Goebbels fand die Geschichte kitschig, ihre Handlung an den Haaren herbeigezogen. Trotzdem wurde der Film aufgeführt. Heute darf er nur in Verbindung mit einem Vortrag an die Öffentlichkeit.
In diesem Film habe ich Willi Rose gesehen. Er spielt den Fahrer der Theatergruppe, Mädchen für alles, berlinernden guten Geist, der die Schauspieltruppe bei Laune hält. Wenn ich hier meine Bahnen ziehe und an Willi Rose denke, sind die Bilder scharf, das vom späteren Brettspringer ebenso wie das vom Schauspieler aus dem Film Fronttheater fünfundzwanzig Jahre zuvor. In schärfsten Konturen standen Schwampel, Handtke und Willi Rose Sachen vor Augen, die nur sie verstanden, ich sah das, wenn sie beieinander standen, plauderten, einander heftig zustimmten und sich umschauten, als gehörten sie einer gang an. Diese Männer waren aus demselben Holz geschnitzt: laut, selbstgewiss und ungetrübt von Zweifeln. Eigenschaften, die Reinhard Rauer, inzwischen Deutscher Meister vom Dreier, nicht ausstehen konnte.
Wenn ich im Olympiastadion von Norden nach Süden schwimme, sehe ich ihre Gesichter, höre ich ihre Stimmen, und wenn ich von Süden nach Norden schwimme, merke ich, es ist schön, beim Schwimmen nicht zu denken, nur Körper zu sein und zu spüren, wie alles leichter wird.
27. September 2015
Mit Zigarettenspitze in der Hand. Zu einer Zeit, als man Literatur nicht studieren kann. Und nicht will. Junge Autoren suchen die Nähe von Schriftstellern und zeigen ihre ersten eigenen Texte. Die Älteren lesen sie und sagen etwas dazu. Christoph Meckel steckt die Zigarettenspitze zwischen die Zähne, damit er Hände schütteln, umarmen, weiter sprechen und lachen kann. Meckel ist einer dieser gutwilligen, zudem gutmütigen Autoren, denen Jüngere viel zu verdanken haben. Der junge Autor ist ja anspruchslos. Zwar hält er sein Schreiben für absolut gelungen. Aber in Wirklichkeit genügt es ihm erst einmal, wahrgenommen zu werden. Von Leuten wie Meckel. Der jetzt nachschaut, ob die Suppe für alle noch heiß und gut ist. Isolde Ohlbaum schießt ein Foto in der Küche. Das sind so lehrreiche wie fröhliche Nachmittage und Abende in den siebziger Jahren in Meckels Wohnung. Wir essen Suppe, trinken Wein, lesen uns Texte vor und reden über sie, und essen Suppe und trinken Wein. Das Foto liegt jetzt auf meinem Tisch. "Ich behalte das Glück der ersten Erinnerung" lautet der Anfangssatz von Meckels großer Erzählung "Suchbild". Erinnerung? Das Foto auf meinem Tisch kann gar nicht von Isolde Ohlbaum sein, sie ist ja auf dem Bild. Es ist nur ihre Kamera. Auch trinken keinesfalls alle Wein. Wir, von links nach rechts, Hans-Ulrich Treichel, Hans-Ulrich Hirschfelder, ich, Isolde Ohlbaum, Christoph Meckel und Michael Speier, stehen in Meckels Küche und fühlen uns richtig wohl. Hinter uns hängt ein Vorhang mit Bäumen in hügeliger Landschaft. Man erkennt einen Suppentopf, rechts eine Schüssel. Treichel und Hirschfelder halten kleine bauchige Berliner Bierflaschen, ich ein Glas Wein, Meckel eine Zigarette. Ein Hang zu karierten Hemden ist zu erkennen. Die Hemden, denke ich jetzt, wollen sagen: Hier wird gearbeitet. Es klingelt. Sarah Kirsch, mit Sohn, steht vor der Tür. Sie hat die DDR verlassen und ist soeben in Westberlin angekommen. Wo geht sie hin? Zum Gastfreund. Zu Christoph Meckel.
25. Juli 2015
5.30 Morgenmagazin (ein boulevardartig aufgezogenes Plapperformat)
9.05 Rote Rosen (Folge 1879, Wiederholung vom Vortag)
9.55 Sturm der Liebe (Folge 2139, Wiederholung vom Vortag)
10.45 Um Himmels Willen (Wiederholung einer Folge aus dem Jahr 2009)
11.35 Nashorn, Zebra & Co (aus dem Tierpark Hellabrunn, München)
12.15 ARD-Buffet (Themen u. a. "Spam-Mails und Trojaner", "Die gute Idee: Garderobe aus Birkenbaumresten und
Lack-Brettern", "Miesmuscheln in Fenchel-Gemüse- Sud")
13.00 Mittagsmagazin
14.10 Rote Rosen (Folge 1880: "Jana steht zwischen zwei Männern. Nathalie wünscht sich, dass ihre Eltern wieder
zusammenkommen und Maurice braucht ein stabiles Umfeld. Thomas entzieht Gunter die Nutzungsrechte am Jagdschlösschen und fürchtet um seine Freundschaft. Aylin findet, dass er richtig handelt, und
übernimmt wieder die Stelle im Umweltdezernat.")
15.10 Sturm der Liebe (Folge 2141: "Erst als er an Julia denkt, findet Niklas bewegende Worte für sein Ehegelöbnis. Als
Julia den Text zufällig liest, ist sie getroffen, da sie nicht ahnt, dass die Worte ihr gelten. Tina verliert nach den Anschuldigungen der Baroness von Kalmoor ihren Job und bekommt von Patrizia
auch noch ein schlechtes Zeugnis ausgestellt. Als Werner Hildegard ein neues Gutachten verweigert, gibt sie selbst eines in Auftrag. Nun bekommt Jonas ein schlechtes Gewissen und beichtet ihr,
den Käfer ausgesetzt zu haben.")
16.10 Panda, Gorilla & Co (aus Zoo und Tierpark Berlin)
17.15 Brisant (das Magazin vom MDR, das eine Zeitschrift wie Bunte wie ein Intellektuellenmagazin aussehen
lässt)
18.00 Verbotene Liebe (Folge 4633)
18.50 Heiter bis tödlich - Morden im Norden
19.45 Wissen vor acht
20.15 Um Himmels Willen ("Neue Folgen": "Während Schwester Hanna die Nonnen des Klosters Kaltenthal auf den drohenden
Frühjahrsputz einstimmt, bekommt die kleine Schwesternschar Besuch in der Klosterkapelle. Ein Hausschwein hat zuvor schon die Küche auf den Kopf gestellt - bevor es weiteren Schaden anrichten
kann, treiben die Nonnen es in einen Stall. Auch das Herrchen von Heinz taucht kurze Zeit später auf, doch damit ist das Problem noch lange nicht gelöst.")
21.00 In aller Freundschaft (Arztserie)
21.45 Donna Leon (Fernsehfilm, Wiederholung)
23.40 Tannöd (Heimatkrimi, Spielfilm, Wiederholung)
Unterbrochen wird das Programm von Tagesschau (neunmal) und Tagesthemen. Und bis 20.00 Uhr von jeder Menge Werbung, versteht
sich.
zitiert nach: www.perlentaucher.de, wo aus diesem Buch zitiert wird:
Berthold Seliger: "I Have A Stream - Für die Abschaffung des gebührenfinanzierten Staatsfernsehens", Edition Tiamat, Berlin 2015, 300 Seiten, 16 Euro
Ich habe einen unbändigen Lebenswillen, sagte der tote Vater in den eigens für dieses Treffen weihnachtlich geschmückten Raum hinein, in dem seine Frau und seine lange erwachsenen Kinder beisammensaßen. So schnell trete ich nicht ab, jedenfalls nicht so schnell, wie mancher es gewollt hat oder immer noch will. Nach diesem langen Leben muss ich sagen: Ich bin hart im Nehmen und hart im Geben, ich habe gelernt, was eine Harke ist, mich kriegt so schnell nichts klein, Unkraut vergeht nicht. Ich trete nicht stumm und schnell von der Bühne ab, das ist nicht meine Art. Man müsste sich schon was Besonderes einfallen lassen, um meine Art zu ändern. Was das ist, darauf will ich nicht näher eingehen. Auch von wem ich hier rede, dazu will ich mich nicht äußern. Das wissen die Betreffenden selbst am besten.
Die Kinder des toten Vaters schauten ihn stumm an. Seine Frau strich die Tischdecke glatt und sagte, Ach Fritz. Es war die Nachmittagsstunde, wenn Müdigkeit, die auf stundenlange Trägheit folgt, von manchen mit Kaffee, von anderen mit Alkohol bekämpft wird. Später wusste niemand mehr, wann es begonnen hatte und was der Anlass gewesen war. Als es begann, wussten sie sofort, es ist wieder soweit: Der tote Vater holt zu einer seiner berüchtigten Familienfeierreden aus, die jedesmal Monologe waren, nur zaghaft unterbrochen durch kurze Kommentare.
Na, was fällt dir denn dazu ein? Ich höre. Ich meine: Ich höre nichts, da kommt ja nichts. Genau deshalb kriegt ihr mich nicht tot, kriegt niemand mich tot. Ich gehe erst dann, wenn ich es will, oder wenn es unabänderlich ist, dann natürlich auch. Aber nicht, weil irgendjemandem das in den Kram passt, schon gar nicht dir oder, mit Blick zu seiner Tochter, dir. Wie kommst du denn darauf, fragte die Tochter. Ich weiß auch nicht, fuhr er fort und strich sich die Hosenbeine über die Waden, ich bin so, ich kann nichts dagegen unternehmen, und ich werde mich nicht mehr ändern. In mir drin ist jemand, der passt verdammt gut auf mich auf. In mir drin wohnt noch so einer wie ich. Einer mit Zugang zum Maschinenraum. Der achtet darauf, dass alle Apparate genug geölt sind und dass ihr Betrieb nicht unterbrochen wird. Der passt auf, dass alles läuft wie am Schnürchen. Generalstabsmäßig, möchte ich sagen, werden ernste Gefahren auf Abstand gehalten. Sind sie sehr nah, blinken die Warnlampen. Darauf war bis jetzt immer Verlass. Toi toi toi. Alles eine Frage der Einstellung. Alles eine Frage der Erziehung oder der frühen Jahre, wahrscheinlich der Erziehung der frühen Jahre. Nicht die Schule war Lebensschule für mich, da habe ich überhaupt nichts gelernt. Die frühen, aber nicht ganz frühen Jahre sind es, denen ich alles zu verdanken habe. Es war eine schreckliche Zeit, doch es war die lehrreichste. Ich bin nicht der Einzige, dem es so geht. Ich war ja schon ziemlich früh auf mich allein gestellt. Ich musste mich durchschlagen. Mir wurde nichts in die Wiege gelegt und nichts geschenkt, außer einem gewissen Willen, sagte er und beugte sich in seinem Fernsehsessel nach vorn, Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt, den Rücken gerundet, zum Boden schauend, als wolle er ein Bild, einen Gedanken oder etwas anderes fassen, das ihm blass in die Erinnerung kam. Ich musste die Zähne zusammenbeißen und den inneren Schweinehund überwinden, immer wieder. Oft ging es nur ums nackte Überleben. Daher kommt mein Wille, daraus ziehe ich Kraft, lange schon und immer noch. Deshalb kriegt man mich nicht dazu, abzutreten, bevor der Herr im Himmel feststellt, nun lass mal gut sein, jetzt ist es soweit. Niemand sonst, ich schwöre es, ich weiß es, man wird sich die Zähne ausbeißen, sagte der tote Vater und fing zu schwitzen an.
Man wird sich die Zähne an meinem Wachhund ausbeißen. Der hat bis jetzt immer Alarm geschlagen und mich vor dem schlimmsten bewahrt. Wenn es richtig eng wurde, wenn ich dachte, jetzt geht nichts mehr, dann war er zur Stelle, jedesmal. Du hast einen Wachhund, das finde ich ja interessant, sagte die Tochter. Der tote Vater schaute sie an, als hätte er vergessen, dass sie am Tisch sitzt. Er nahm einen Schluck Weizenbier und beugte sich wieder nach vorn, als wolle er seiner Erinnerung näherkommen. Aber er sagte nichts. Er schien den Faden verloren zu haben. Seine Monologe dauerten ihre Zeit und liefen erst ab dem zweiten Weizenbier auf einen Höhepunkt zu. Er saß noch neben seinem ersten und nahm einen Schluck. Ja, ich habe einen treuen Wächter. Keinen kilometerweit zu hörenden Wolf, wie sie damals in den Winternächten zu hören waren. Mein Wachhund heult nicht, mein Wachhund wacht, und zwar über mich. Er ist ein ganz stiller Genosse. Er wacht auch über dich und dich und jeden, der in meine Nähe kommt, sagte er, wobei er seine erwachsenen Kinder anschaute und sich in seinem Sessel zurücklehnte.
Kannst du deinen Wachhund irgendwie beschreiben, fragte die Tochter, wie kann ich mir den denn vorstellen? Weißt du, Lise, dein Interesse in allen Ehren, wirklich, das nehme ich erfreut zur Kenntnis. Aber glaube mir, du kannst ihn dir nicht vorstellen. Ich kann ihn mir nicht einmal selbst vorstellen. Ich weiß nur, dass er mich beschützt. Erzähl doch mal von dir, sagte die tote Mutter zu ihrem Sohn, wie geht es mit der Arbeit?
Weißt du, es gab manchmal Momente, da hatte ich die Schnauze voll und wollte alles hinwerfen, sagte der tote Vater. Alles sein lassen. Ende der Vorstellung. Aus und vorbei. Aber ich konnte nicht. Mein Wachhund war stärker. Er ließ mich nicht von seiner Leine. Damals, als es immer kalt war und jahrelang Winter, als wir nachts angegriffen wurden und nicht wussten, aus welcher Richtung, da habe ich mir einen Schutzengel zur Seite gewünscht. Bekommen habe ich einen Wachhund. Seit damals gehen wir zusammen durchs Leben. Heute beschützt er mich immer noch und lässt sich von nichts und niemandem davon abbringen, nicht einmal von mir. Er hält mich am Leben, so lange er will. Ich habe keine Macht mehr über ihn. Selbst, wenn ich dran bin, so ist mein Gefühl, selbst wenn ich eines Tages verschwinden soll, wird er mich nicht einfach gehen lassen. Ich kenne ihn. Er lässt sich etwas einfallen, um mich in der Welt zu lassen, bei denen, die mir nahe waren, bei dir und bei dir, und bei dir, Tatsache wahr, fügte er hinzu und schaute nach seinen Kindern auch seine Frau an. Jetzt ist aber wirklich gut, Fritz, sagte die tote Mutter, das will niemand hören. Wir können uns doch auch unterhalten. Ganz egal, ob du es willst, ob ihr es wollt: Ich bleibe, ich gehe nicht. Ihr werdet mich ertragen müssen bis weit über das Ende meiner Tage, sagte der tote Vater, beugte sich nach vorn, dann zur Seite, nahm einen Schluck Bier, lehnte sich tief in seinen Sessel und nestelte an seinem Hosenstoff.
Man lebt so kurz und ist so lange tot, habe ich immer gesagt, ihr erinnert euch vielleicht. Ihr habt es geglaubt. Weil ihr nicht nachgedacht habt. Euch kann man vieles erzählen. Ihr glaubt so etwas einfach, weil es bequemer ist. Ihr habt ja immer den Weg des geringsten Widerstands gesucht und gefunden. In Wahrheit ist es nämlich genau andersherum. Ich war während der kurzen Zeit mit euch weniger am Leben als ich es nach meinem Verschwinden sein werde. Ich werde mindestens so lange leben wie ihr. Und zwar in euch. Da staunt ihr, was? Die tote Mutter rückte ihren Sessel heftig nach hinten, so dass er gegen einen Glasschrank schrammte, und ging in die Küche. Was heißt hier eigentlich ihr?, sagte der Sohn. Lise und ich sind doch nicht eine einzige Person. Vielleicht sind wir sowas wie Individuen. Jaja, Individuen, sagte der tote Vater. Hast du Wölfe gesehen damals? Haben sie euch angegriffen?, fragte die Tochter. Der tote Vater fuhr fort. Um beim Thema zu bleiben: Wenn ich gehe, geht mein Wachhund noch lange nicht. Er wird euch an mich erinnern, und zwar für alle Zeiten. Apropos Individuen: Ich garantiere euch, später werdet ihr euch einmal an meine Worte erinnern. Später einmal werdet ihr merken, dass irgendetwas nicht stimmt. Ihr werdet eure Gedanken denken, eure Sätze sagen und eure Dinge tun. Und ihr werdet merken, während ihr denkt, sprecht und Entscheidungen trefft: Das seid ihr gar nicht ganz allein. Da ist noch etwas. Ich kann euch sagen, was. Ich werde es sein, der in euch denkt, der aus euch spricht und eure Entscheidungen trifft. Das war in der Vergangenheit schon so. Das oppositionelle Gehabe, mit dem ihr euch früher bestückt und umgeben habt – meint ihr, das war eure freie Entscheidung? Euer Eigenes ist sehr überschaubar. Das meiste von euch, so ist es nun mal, das seid gar nicht ihr, das bin ich. Tatsache wahr. Da könnt ihr machen, was ihr wollt. So viel zu den Individuen, Lise, Tom.
Vergesst die Beerdigung, sagte der tote Vater zu seinen erwachsenen Kindern, nachdem er einen Schluck Weizenbier genommen und seine Hosenbeine über die Knie gezogen hatte, meine Beerdigung nehme ich selbst in die Hand. Ich werde tot sein, er nahm noch einen Schluck und lächelte gespielt die zu seiner Linken sitzenden Zuhörer an, ich werde tot sein und die Beerdigung wird so ablaufen, wie ich es vorbereiten werde, es wird für alles gesorgt sein, da kenn ich nichts. Ihr könnt ganz beruhigt sein, es kommt nichts auf euch zu, keine Kosten, kein Ärger, gar nichts. Es wird eine schöne Trauerfeier geben und ein schönes Grab. So, wie ich das organisieren werde, würdet ihr das nicht einmal im Traum hinkriegen. Ihr werdet es sehen, falls es euch mal da hin verschlägt, wenn es soweit ist. Macht euch keine Vorwürfe deshalb, es ist besser, wenn ich mich selbst beerdige und meinen eigenen Stein aufs Grab stelle, auf euch ist leider kein Verlass, das wisst ihr selbst am besten. Nein, das ist kein Vorwurf, sondern Tatsache, Tatsache wahr, da kennen wir nichts.
Ich bin ein Mann, verstehst du, sagte der tote Vater zu seinem Sohn, du bist ein Sohn. Ich bin Vater. Du bist Sohn. So ist die Lage, was uns betrifft, und so wird sie bleiben. Du wirst nie ein richtiger Vater werden, nie Vater sein wie ich. Du wirst Sohn bleiben, so lange du an mich denken kannst. Mach dir nichts daraus. Mach dir nichts daraus, sagte die tote Mutter, nachdem der tote Vater den Raum verlassen hatte, das meint er nicht so, du kennst ihn doch. Wenn du wüsstest, was ich mir manchmal anhören muss. Du darfst nicht alles ernst nehmen, was er sagt, und schon gar nicht darfst du es dir zu Herzen nehmen, obwohl: Er ist im Grunde ein kluger Mann. Er ist manchmal ein Scheusal, aber er hat auch seine guten Seiten. Denke nicht, dass ich mir immer anhören will, was er von sich gibt. Mit den Jahren geht es hier herein und da wieder hinaus, manches höre ich gar nicht mehr. Ich denke an seine guten Seiten, wenn er mir seine schlechten Seiten zeigt. Wenn er flucht, denke ich an sein Lachen. Wenn er nur an sich selbst denkt, erinnere ich mich daran, wie er manchmal auch an mich gedacht hat. So kommt man weiter, sich nichts draus machen, das ist das Beste.
16. Juni 2015
Manchmal schaue ich in ein Wochenblatt. Es wird im bildungsnahen Haushalt am Wochenende gelesen und verbreitet Behaglichkeit. Neulich merke ich, warum. Dauernd heißt es "wir", ersatzweise "man". Thema Flüchtlinge: "Was wollen wir tun?" Thema Renten: "Was müssen wir ändern?" Auch Fernseh-Talkshows neigen zum Wir: "Deutschlands Löhne – was ist unsere Arbeit wert?" Unsere Arbeit. Wessen Arbeit? Ihre Arbeit? Die Ihres Chefs? Oder meine Arbeit?
Wenn die Wochenzeitung zum Flüchtlingsthema fragt "Was wollen wir tun?", will sie mit dem "Wir" Gemeinsamkeit stiften. Schließlich sitzen "wir" im selben Boot; ähnlich wie die Flüchtlinge in einem anderen Boot. Auch die Frage, was wir bei den Renten ändern müssen, ist keine Frage, sondern sie behauptet einen Konsens. "Wir" ändern die Renten: Sie? Ihr Chef? Ich?
21. Mai 2015
Ich habe mich am Einschaltknopf aufgegeben und bin zur Verschickung ins Land der behaglichen Aufgabe, des sanften fühllosen K.O. gereist. Habe mir zwei Abende lang willens den Kopf vollscheißen lassen vom Fernsehen. Als müsste ich ganz voll werden, um leer zu werden. Das ist das neulich noch moderne Nickerchen. Man hat ja beim Fernsehen die Augen geschlossen. Bei manchen Meditationsübungen hat man die Augen geschlossen, aber mit geschlossenen Augen schaut man ins belebte Dunkel hinter dem heruntergeklappten Lid. So ist Fernsehen. Ich schaue nicht wirklich Bilder außerhalb meiner selbst an. Ich meditiere, schalte ab und lass mir in dieser Döshaltung Bilder vorführen, die ich nicht für sich sehe, sondern erst wahrnehme, wenn sie mich zu betreffen scheinen. Das Fernsehgerät ist ein externes Körperteil. Doch wenn sie mich betreffen, steigert sich lediglich der Taumel, etwas hinter den geschlossenen Lidern zu sehen (und immer sieht man etwas, wenn man offenen Auges von innen auf die geschlossenen Lider schaut), das einen betreffen könnte. In der Regel betrifft einen das nicht, was das Fernsehen bringt, der Unterschied ist nur, dass es egal ist, ob einen etwas betrifft oder nicht. Es betrifft einen alles und nichts. Alles ist interessant. Nichts ist wichtig. In diesem Taumel lebt der Stadtspaziergänger. In diesem Taumel lebt, wer ohne Stimme im Radio oder ohne laufendes Programm, ohne eigenes Ausblenden bei weiterlaufendem Programm nicht einschlafen will. Es gibt keine Einschalt- und keine Ausschalttaste. Das Programm beginnt als Radiowecker und endet mit der einprogrammierten Selbstausschaltung, wenn überhaupt (der Fernseher merkt das daran, dass er keine Iris mehr lesen kann, die auf ihn gerichtet ist). Innerhalb der Wohnungen: die Stadt. Außerhalb ihrer: das Fernsehen.
Wer hier spricht? Der Zuschauer. Ich bin er. Ich schaue das Programm Fernsehen an. Ich schaue das Programm Stadt an. Vieles haben sie gemeinsam. Sie werben um mich und andere, machen Werbung für sich und andere. Machen Programm, das die Werbung einrahmt. Die Stadt ist ein Programm. Das Fernsehprogramm ist eine Stadt. Ich gehe durch die Stadt und sehe fern. Ich sehe fern und gehe durch die Stadt.