Im Radio die Wiederholung eines Konzerts von Thelonious Monk aus dem November 1969 in der Berliner Philharmonie gehört. Bin damals dort gewesen und sehe den Meister, kein einziges Wort von sich gebend, am Flügel sitzen und traumhaft schön vor sich hin spielen. Ein wunderbares Konzert.
Monk macht eine Pause, es tritt der Leiter der Jazztage, der anders legendäre Joachim Ernst Berendt, auf die Bühne, um eine Ansage zu machen. Man hört wütendes Pfeifen und Buhen, das deutlich lauter ausfällt als der Applaus für Monk zuvor. Berendt entschuldigt sich sogleich, dass er auf die Bühne getreten ist, und sagt, er werde nur eine kurze Ansage machen. Wieder Pfiffe und Buhrufe, als müsse gleich die Bühne gestürmt werden. Seine Ansage ist eher verkehrstechnischer Art: Da am Samstag ein ausverkauftes Olympiastadion zu erwarten sei, rate er den Besuchern eines Jazzkonzerts in Westend, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Ein kleiner sachdienlicher Hinweis, könnte man meinen. Aber was für eine Prozedur das ist, 1969! Das streitwillige Publikum nutzt jede kleine Pause der Ansage, um sowas wie Meinung aus sich herauszubrüllen.
Verblüffend, auf welch reflexgeleitete Weise man sich damals gegen vermeintliche Autoritäten wehrte. Und wie man sogleich Unrecht schaffte, zum Beispiel Berendt gegenüber, der Monk nach Berlin gelotst hatte. Das junge Publikum lebte ganz und gar in einer bipolaren Welt, begriff, was es sah, nur im Entweder/Oder-Modus, erkannte, selber blind, nur noch Freund oder Feind.
Dies heute zu hören, hat etwas Komisches - und ist das Gegenteil von lustig. Der sich für seine Anwesenheit sogar entschuldigende Berendt, dem Distinktionsterror der Zuhörverweigerer ausgesetzt, meldet innerhalb seiner Ansage selber ein Distinktionsbedürfnis an, indem er vorgibt, den Namen des Fußballvereins nicht zu kennen: "Hertha … BSC, heißt das wohl", sagt er. Damals lebte er längst, der alternative Spießer, und kam sich heillos progressiv vor.
"We are writers, we are free" sagte Michael Anania vor vielen Jahren in Chicago zu uns deutschen Dichtern. Gestern hörte ich diesen Satz wieder, auf deutsch mit polnischem Akzent gesprochen, von Adam Zagajewski: "Wir sind Dichter, wir sind frei, deswegen sind wir doch Dichter! Wenn wir die Natur anschauen, können wir sie anschauen wie zum ersten Mal, und können schreiben, was wir da sehen."
Manchmal müssen die einfachen Sachen wieder gesagt werden. Sie geraten so schnell in Vergessenheit. Vorher hatten vier deutsche Lyriker über Natur und Landschaft gesprochen, und natürlich war vom Verschwinden der Landschaft, vom Verschwinden der Natur, gar von einer Lüge die Rede, wenn man eine Idylle beschreibt. Die Namen will ich hier nicht nennen ("Die ganze Innung bedarf der Schonung" - um Peter Rühmkorf zu zitieren).
Er ist einer der zwei großen Dichter seiner Generation, von seiner ersten Erzählung an bis zu seinem neuesten Buch. Von vielen Schriftstellern verehrt, den Halbwissenden verhasst und vom Gros der Feuilletonsoldateska einst geradezu verfolgt. Aber warum nur ist er in diesen Teil des Landes gezogen?
Am Morgen in Berlin und während der Autobahnfahrt strahlendschönes Wetter. Nach einer Weile Fahrt im Sonnenschein und über flaches Land ging es hinab in eine Senke, ein dichter Wald säumte die Autobahn, es wurde dunkel und so rauschhaft neblig, dass man keine fünfzig Meter weit gucken konnte. Geheimnis … Flüsterte der Schneewaldboden?
Nach wenigen Minuten war der Spuk vorbei, der Ort lag hinter uns, der Himmel riss auf, die Sonne schien wieder, und wir nahmen erneut Fahrt auf. Danach schallendes Gelächter. Warum nur ist er dorthin gezogen? Deswegen? Wie diese beiden Wetter, so auch sein neuestes Buch: leuchtendklare Skizzen neben schwerbehangenem Selbstgespräch. Anverwandelte Landschaft, dieser Mann.
Eine Literaturkritikerin, und, wie ich bisher dachte, nicht die schlechteste, mokiert sich darüber, dass Bücher, die von persönlichen Krisen berichten, nach dem Schema vor der Krise/während der Krise/nach der Krise verfasst sind. Das Leserinteresse an persönlichen Krisengeschichten, so sie, leite sich "ja wohl vom realen Charakter der Makrokrisen" ab. Für die persönliche Geschichte eines Krebskranken interessiere der Leser sich also nur vor dem Hintergrund der "Krise des Weltklimas oder des globalisierten Kapitalismus". Vor diesem Hintergrund, so sie weiter, habe man sich persönliche Miseren allerdings nicht als Regengüsse vorzustellen, die dem nächsten Sonnenschein vorausgehen, wie es jene Buchautoren tun, sondern "als das Bild eines permanenten leichten Nieselns". Man müsse "unsere Idee, wie Krisen beschaffen sind", daran ausrichten, dass wir uns "in ebendiesem Nieselwetter befinden".
Lange nicht mehr solch einen Schwachsinn gelesen, dahindeliriert von einer vom Leben Ungestreiften. Ich wünsche der Kritikerin alles Gute, sie wird es brauchen. Einem Menschen vorwerfen, dass er seine Krise überwunden hat, während das Weltklima in einer Krise bleibt, und der Kapitalismus sowieso: Als Slapstick ausbaufähig - aber sie meint das ernst.
Ich gehe durchs KaDeWe, ein eigenwillig gekleideter Mann erregt mein Interesse, ich schaue auch zu seiner Frau, die sich in diesem Moment in meine Richtung dreht und auf den Mann einredet - eine Schriftstellerin, ich kenne sie, sie kennt mich. Aber es kommt nicht zum Wiedererkennenwollen. Sie ist voll und ganz damit beschäftigt, ihrem Begleiter zu schildern, für wie lebens- und weltfern sie die Umgebung hält, in der sie sich hier befindet - die sechste, die Lebensmitteletage des KaDeWe, früher ein vielbeschriebener Ort des Luxus der westlichen Welt. Das ist das, was ich an Schriftstellern, als ich mich mit ihnen noch herumtrieb, nie mochte, was Kulturträger so abstoßend machen kann: diese Bigotterie. Dabeiseinwollen, aber die Distanz zum Dabeisein auf der Nasenspitze mit sich tragen und die Distanz mit einer Teilnahme vortragen, die man ihnen für ihre angebliche Hauptbeschäftigung, das Erstellen von Kunstwerken, wünschen würde. Hierzusein und dauernd zu faseln, eigentlich sei man woanders. Ja dann geh doch!