Einen Tag, bevor die Ereignisse unausweichlich in Gang kamen, hatte meine Mutter mich angerufen und darum gebeten, an diesem Tag noch zu ihr zu kommen. Sie hatte sich die Lippen geschminkt, was
ich länger nicht mehr an ihr gesehen hatte. Ihre Demenz war noch im Anfangsstadium, sie ließ sich durch Lebenswind, wenn er denn aufkam, noch scheinbar verscheuchen. Sie war aufgedreht,
vormittagsaktiv, und sehr gesprächig. Sie hatte Wasser und Saft hingestellt, trank an diesem Vormittag jedoch selber nichts. Ich hatte die Wohnung schon verwirrter oder trauriger oder
deprimierter verlassen als an jenem Tag. Ich hatte die Mutter schon schwächer und mutloser erlebt gehabt als an diesem Donnerstagvormittag. Sie winkte mir vom Fenster aus wie immer nach. Am
nächsten Morgen rutschte sie aus ihrem Alltag, aus dieser Wohnung, hinüber in etwas anderes. Sie war gestürzt und hatte das Bewusstsein verloren. "Wir möbeln sie wieder auf", sagte ein
Krankenhausarzt, "sie war ausgezehrt, fast ausgetrocknet", fügte er hinzu.
Im Krankenhaus an ihrem Bett schien mir, dort lag nur noch die Hälfte der geliebten Person. Sie hatte tagelang kein Essen angenommen und wurde flüssig ernährt. Es fiel ihr schwer zu sprechen, als
seien die Gedanken zu schwer geworden. Ich sagte "Du musst wieder kräftig werden". Ich meinte, etwas Farbe in ihr fahles Gesicht fließen zu sehen. Wie unter Protest sagte sie, sie wolle dort
nicht bleiben. An ihrem Bett waren zwei Gitterstäbe befestigt, da sie mehrmals versucht hatte, aus dem Bett zu steigen. Ich hatte ihre Lage noch nicht verstanden und fragte nach ihrem
Tagesablauf. Um mich zu beruhigen, sagte sie "Manchmal gehe ich auch auf den Balkon". Was, wie ich wusste, glatt gelogen war. Völlig antwort- und hinweislos blieb ich mit meiner ungeschickten
Frage, ob sie etwas brauche, ob ich ihr etwas bringen könne, das sie benötige. Sie verstand nicht, etwas brauchen zu müssen, etwas zu wollen, das es nicht schon gab. Das Zimmer war
schlagkahl.
Beim nächsten Besuch im Krankenhaus war sie etwas mehr geworden, die Haut straffer, unter der Gesichtshaut hatte sich wieder Gewebe angesammelt. Es war Nachmittag, und es gab Kaffee. Ich kaufte
eine Tafel Schokolade und eine Packung Kekse. Ich wusste, wenn sie wenig isst, isst sie wenigstens noch Süßes. "Nervennahrung, das ist gut", sagte sie. Diesen Satz hörte ich als
Hallo-hier-bin-ich-Gruß einer wieder Zurückgekommenen. Während sie aß, erzählte ich ihr, wir hatten Tieffrost und Hochschnee, von meinem Plan: Sie solle sich jetzt kräftigen, damit ich sie, wenn
es Frühling würde, im Rollstuhl durch das junge Grün schieben könne. Dieser Gedanke schien ihr zu behagen. Ich hatte den Eindruck, allein das Aussprechen eines Ziels hatte ihr klarere Augen
gegeben, und ich sah ihr ein fast vergnügliches Gedanken- oder Bilderkombinieren hinter den Augenbrauen an. Dann versuchte sie zu erzählen, dass die enorme Leistungen vollbringen würden, all die
Autos von dort nach dort zu schaffen; ununterbrochen, bei Tag wie bei Nacht, würden die arbeiten. Sie meinte eine fünfzig Meter entfernt gelegene sechsspurige Ausfallstraße nach Westen, deren
Geräusche in dem Zimmer Tag und Nacht zu hören waren. Meine Mutter schlafe nicht so viel wie die anderen Patientinnen, sagte eine Krankenschwester, sie liege oft wach. Dann bezeichnete die Mutter
ihre Bettnachbarin mit dem Namen ihrer Tochter, meiner Schwester, und bot ihr mehrmals einen Keks an. Wie schön die Züge ihres Gesichts noch einmal leben, dachte ich; meine Tränen waren
sturzbereit, als ich sie zum Abschied auf die Wange küsste. Über den Zeitraum von drei Wochen, den sie in diesem Krankenhaus verbrachte, stabilisierte sich ihr schlechter Zustand. Sie konnte
nichts mehr tun, aber auch nicht aufhören, in größter Beschränktheit der Denk- und Atemwelt weiterhin beizuwohnen. Nach drei Wochen kam sie in ein Pflegeheim, nicht weit entfernt von ihrer
Wohnung, die sie nie wieder betreten würde.
Bevor sie ins Krankenhaus kam, konnte sie gut gehen, wenn auch etwas unsicher, konnte sie ihre eigenen Dinge, Kosmetik, Waschen, Essenmachen, selbst erledigen, sie konnte einkaufen gehen. Sehr
schlecht waren inzwischen ihre Augen geworden, denen nach zwei Laseroperationen medizinisch nicht mehr zu helfen war. Schon damals trank sie zu wenig. In den Monaten vor der Einlieferung ins
Krankenhaus hatte sie einige Kilo abgenommen und war insgesamt etwas schwächer geworden. Diagnostiziert war die erste Stufe von Demenz. Um den Fortgang der Krankheit zu verzögern, nahm sie
täglich Tabletten.
Im Krankenhaus wurde sie - ich möchte es nennen: abgelegt. Sie konnte nicht mehr gehen, nur noch liegen, sie wollte oder konnte nicht mehr selber essen, sie war nun inkontinent, sie war noch
verwirrter als ich sie jemals erlebt hatte, und im Krankenhaus hatte sie mehrere wundgelegene Stellen an Rücken, Po und Füßen bekommen.
Drei engste Angehörige waren da. Der Sohn, die Tochter und der Ehemann. Wir trafen keine verbindlichen Absprachen, wer wann was tut, erreichten in der ersten Zeit aber, dass täglich einer von uns
bei der Mutter war. Manchmal liefen wir uns über den Weg und lösten einander ab. Eigenartigerweise waren wir alle überrascht, als die Meldung kam, dass sie ins Krankenhaus gebracht worden war -
obwohl die Einschränkung ihrer Gesundheit uns nicht neu war.
Ich erhaschte das Ende des Traums, den ich an einem Morgen geträumt hatte. Es war ein halbes Jahr vor diesen Ereignissen. Ich stand vor meinem Kindheitshaus und beobachtete meinen Vater, der sich
soeben eine Sonnenbrille aufgesetzt hatte und mit hochgezogenen Schultern zu seinem Auto ging. Ich schaute zu dem kleinen Zimmer der Elternwohnung hoch, hinter dem die Mutter immer gestanden und
gewunken hatte, wenn einer aus dem Haus gegangen war. Hinter der Fensterscheibe war aber niemand. Alles, was ich dort, wo ich ihren Kopf erwartet hatte, sah, war eine verschmierte Stelle auf der
Scheibe, mehr nicht. Mein Vater fuhr davon. Niemand winkte ihm nach. Ich schaute zu der Fensterscheibe hoch und erwachte.
Ich ging die Rampe hoch und in das Haus hinein. Im Erdgeschoss standen viele Türen offen. Ich grüßte nach rechts, wo vier Männer Karten spielten, und stieg zum ersten Stockwerk hoch. Dort standen
weniger Türen offen. In jedem Zimmer saß eine einzelne Person, manche schliefen oder dösten. Überall waren Fernseher an. "Wo wollen Sie hin", rief eine Frauenstimme, "wo wollen Sie hin". Die
Stimme war tief. Ich blieb stehen. Beim zweiten Mal versuchte ich herauszuhören, wo sie herkam. Vom Ende des Flurs. Dort war nichts weiter als das Ende des Flurs. Ich ging weiter, nun mit
leiseren Schritten. "Wo wollen Sie hin", diesmal gestochen scharf. Trotzdem tat ich einen weiteren Schritt zu dem Zimmer hin, das ich betreten wollte. "Da können Sie nicht rein", sagte die
Stimme. Ich dachte an ein für mich unsichtbares Mikrophon sowie an eine Kamera und an einen Lautsprecher, die am Ende des Flurs befestigt sein mussten. Ich entschied mich, das Zimmer nicht zu
betreten und ging der Stimme am Ende des Flurs entgegen. Ich bog um die Ecke und landete direkt in einem Raum wie die anderen. Vor mir lag eine der Bewohnerinnen angezogen und, fand ich, wie
strammstehend in ihrem Bett und stellte mir eine Frage nach der anderen, wer ich sei, wo ich herkomme, wo ich hinwolle, was ich mit der Person dort zu tun habe, warum ich nicht später kommen
könne. Als sei sie Portier, dachte ich, als sei sie Aufseherin. Ich lachte, drehte um und betrat das Zimmer meiner Mutter.
Die Person war noch weniger geworden, es war nicht mehr viel Fleisch unter der flachen Bettdecke zu vermuten. Sie hatte die Augen geschlossen, schlief aber nicht. Ich füllte eine Vase mit Wasser
und stellte die Tulpen hinein. Ich setzte mich ans Bett, ihre Hand kam unter der Bettdecke hervor; sie griff so fest zu, wie ich es nicht erwartet hatte, und drückte meine mit fröhlicher
Handdrücklust. Eine Pflegerin stellte das Kopfteil des Bettes hoch und hob die alte Frau, die dabei ein wenig stöhnte, von der Liege- in die Sitzlage, Beine am Bettrand herunterbaumelnd. Sie trug
einen Rollkragenpullover und Windeln. Dann hob sie sie in ihren Rollstuhl. Sie stellte einen Kaffeebecher auf den Tisch, sowie einen Teller mit zwei dicken Scheiben Weißbrot, darauf dünn
gestrichener Pflaumenmus. Meine Mutter schob die zwei Pflaumenmusscheiben mit einem Laut von sich, den ich immer schon von ihr kannte, und der mir Freude bereitete, Lebensfreude. Das Geräusch kam
mir vor wie ein Zeichen aus dem alten normalen Leben, das vorbei war. Ich rollte sie ans Ende des langen Flurs im ersten Stock, schob sie in den Fahrstuhl und im Erdgeschoss die Rampe hinunter
nach draußen. Eine milde Luft umfächerte uns. Hatte sie drinnen noch von diesem oder jenem erzählt oder zu erzählen versucht, so schwieg sie draußen ganz und gar, zeigte manchmal mit den Fingern
auf etwas – wir befanden uns in dem Park, den sie aus den vergangenen Jahrzehnten sehr gut kannte. Sie zeigte auf die Blüten, die aus ihren Hüllen schossen. Das junge Grün sah sie deutlicher als
das alte. Sie legte den Kopf nach hinten und schloss die Augen. Den meisten Rollstuhlsitzern, die uns entgegenkamen, fiel das Gesicht nach vorn, eine schien sogar zu schlafen. Auf dem Weg um den
Parkteich hielten wir einmal an. Ich sprach sie an, sie winkte ab und zeigte mir, dass sie nur schauen und atmen wollte, mehr nicht. Wieder im Zimmer, öffnete ich Schokolade- und Kekspackungen
und breitete einige Stücke auf dem Tisch vor ihr aus. Sie aß. Sie hatte Hunger. Und sie trank. Ich wollte ihr den Kaffeebecher abnehmen und ihn sicher auf den Tisch stellen. Sie aber behielt ihn
in der Hand und wippte diese, durchaus kontrolliert, zu einer Musik, die aus dem Radio kam. Ich legte neue Kekse hin, ich goss Kaffee und Wasser nach. Wieder versuchte ich ins Gespräch zu
bringen, ob ich ihr mit meinen Mitteln helfen könne. Sie sagte, "Nein, es ist alles da", und "Mir fehlt nichts". Es gefiel mir, wie sie nach dem Essen und Trinken langsam müde wurde. Wieder hielt
ich ihre Hand, auch sie wollte es; sie drückte und knetete meine, so sehr sie konnte. Ich kämpfte mit den Tränen, wie bei jedem meiner Besuche im Krankenhaus oder im Pflegeheim; ich verlor diesen
Kampf regelmäßig. Ich war verblüfft, wie schnell ich nach den Sekunden, in denen ich keinen Laut hatte herausbringen können, geradeaus und durchaus beherrscht klingend gleich wieder sprechen
konnte, als wäre nichts gewesen.
Sie sagte, was sie am Vortag gegessen habe, ich glaubte es ihr nicht. Genausowenig konnte ich ihr glauben, dass sie sich am Vorabend noch im oberen Geschoss aufgehalten habe, wo alle gute Laune
gehabt hätten und einige ihrer früheren Arbeitskolleginnen anwesend gewesen wären. Zwischendurch schloss sie die Augen, oder auch nur halb, und dämmerte vor sich hin; dann, scheinbar anlasslos,
öffnete sie sie wieder und sagte "Schön, dass ich dich geholt habe." Ja, dachte ich, schön, dass du mich geholt hast. Ich habe das vor ein paar Stunden gemerkt und bin schnell hergekommen. Ich
sagte ihr das so. Sie schaute mich an, als verstehe sie mich nicht. Ich sagte, so etwas verstehe niemand, das verständen nur wir beide. Sie antwortete nicht. Sie erzählte munter weiter. Fragte
mich, was es Neues gebe. Ich sagte, heute morgen sei einer der letzten Diktatoren Europas tot in seiner Zelle aufgefunden worden. "Um den ist es nicht schade", sagte sie.
Sie wurde müde und wollte ins Bett. Ich wusste nicht wie, sie konnte ja nicht gehen. Sie befahl mir, sie mit dem Rollstuhl ans Bett zu schieben. Dort tat sie, als wolle sie aussteigen und sich
ins Bett legen. Selbständig konnte sie das nicht. So kam es, dass ich sie zum ersten Mal ins Bett hob. Ich nahm etwas mehr als vierzig Kilo, die wie zwei Zentner wogen, in meine Hände. Sie machte
sich steif. Sie fragte "Bin ich schwer?" Die Pflegekräfte mussten sie zu zweit ins Bett hieven, war mir erzählt worden. Als sie lag, setzte ich mich daneben und sagte "Übermorgen ist
Frühlingsanfang". Ihre Antwort: "So weit können wir also in die Zukunft schauen." Dann sagte sie: "Was ist denn das für ein Licht?" Ich wusste nicht, was da für ein Licht war. Ich meinte, nur sie
sehe dieses Licht. Als sie diesen letzten Satz sagte, zeigte sie zur Tür, die offen stand, und zum hellen Flur, genau hinter mir, der aber nicht heller war als sonst, und wo auch kein Licht
flackerte. Welches Licht? Als ich mich verabschiedete, hatte ich, nur weil ich mich verabschiedete, wieder nasse Augen. "Du bist mein Liebling", sagte sie.
Seit Wochen fragte ich mich: Wie geht trauern? Seit Wochen hatte ich das Gefühl, dass ich etwas versteckte, das in mir arbeitete, und das ich nicht zeigte - weil man es nicht zeigen durfte? Meine
paar Vertrauten wussten Bescheid und versuchten mir beizustehen mit ihren Worten; ich aber hatte das Gefühl, dass es keine Möglichkeit gab, außerhalb diesen Schutzes Intimer zu trauern. Als sei
es verboten. Als mache man das nicht. Höchstens im Kämmerlein. Manches Mal war mir danach, schreiend und klagend da zu sein, wo ich gerade entlangging. Das Schreien und Klagen aber, dachte ich,
ist völlig verbannt worden. Ich kannte das Schreien und Klagen nur noch als vor Fernsehkameras oder sonstigen Zuschauern inszeniert. Klagen, wie?, trauern, wie?, ein Gespräch mit Gott aufnehmen,
wie?, fragte ich mich.
Ich bin aus der Fassung, dachte ich in den Stunden und Tagen zwischen den Besuchen. Ich fühlte mich gefährdet, etwas falsch zu machen, ein Unglück heraufzubeschwören durch meine dauernde halbe
Abwesenheit. Manches Mal merkte ich erst hinterher, dass ich soeben eine Straße überquert oder eine Scheibe Brot abgeschnitten hatte. Ich tat etwas, auf die Uhr schauen, etwas wegräumen, etwas
hervorkramen, und wusste gleich danach nicht mehr, wie spät es war, ob ich das eine Ding weggeräumt, ob ich das andere hervorgekramt hatte. Ich steckte meine Brieftasche in die Jackentasche und
schaute drei Sekunden später nach, ob ich sie in die Jackentasche getan hatte. Beim Blick auf eine Schaufensterscheibe hatte ich den Eindruck, ich sehe zehn Jahre älter aus. Das
Gefälligkeitsgesicht, mit dem man in der Regel durch die Straßen geht, gelang mir nicht mehr. Ich bekam den Eindruck, angekommen zu sein, freilich wusste ich noch nicht, ob dies mein Zielzustand
war.
Vom Seecafé aus sah ich eine alte Frau, sehr klein, sehr gebeugt, im Frühling mit warmem Wintermantel, die um den See ging. Ich war ihr bereits eine halbe Stunde zuvor begegnet. Nun ging sie den
Rückweg, Trippelschrittchen vor Trippelschrittchen, im Tempo einer Schnecke. Ich meinte zu sehen: Sie hasste Rollstühle. Nichtmal einen Stock gestand sie sich zu. Sie arbeitet an sich, denn Gehen
ist Leben, dachte ich.
Der nächste Besuchstag war ein Sonntag. Ich sah sie weiter hinten im Rollstuhl quer über den Gang sausen. Am Ende des Flurs trat ich in einen großen Raum, in dem über zwanzig Heimbewohner vor
Getränken saßen und zumeist vor sich hin starrten. Aus Lautsprechern dröhnte die Stimme von Roger Whittaker. Ich fand, meine Mutter schaute traurig; sie rieb ihre Fingerspitzen aneinander, wieder
und wieder. Nur am Tischende, wo die Raucher saßen, wurden Worte gewechselt. Ein alter Mann und eine alte Frau schienen ein Paar zu sein und hielten Händchen. Nicht weit von mir saß die Frau, die
mich an meinem ersten Besuchstag mit ihrer Lautsprecherstimme begrüßt oder abgewiesen hatte. Die Pflegerin fragte alle um den Tisch Sitzenden nach ihren Geburtsjahren. Sie waren zwischen
achtzig und achtundneunzig Jahren alt. Die Raucher waren am jüngsten und sahen am ältesten aus.
Im Pflegeheim wurde versucht, ihren Zustand zu stabilisieren und die wundgelegenen Stellen zu heilen. In ihrem Zimmer standen immer mehrere Wasserflaschen. Manche waren auch geöffnet. Allerdings
musste man ihr das Wasser eingießen und sie ans Trinken erinnern. Dafür war im Pflegeheim bzw. im "Pflegeschlüssel" (über den die Handreichungen der Pflegekräfte abgerechnet werden) keine Zeit
übrig. Wenn wir Angehörigen nicht da waren, trank sie zwischen den Kurzaufenthalten der Pflegekräfte in ihrem Zimmer nichts. Ihr war anzusehen, dass sie stärkere Medikamente bekam. Eine
Hautallergie, die sie jahrelang geplagt hatte, war mit einem Mal verschwunden. Es war die Zeit, als sie ein paar Kilo zunahm und insgesamt wohler aussah. Sie bekam ein Spezialbett, an dem die
wunden Hautpartien sich weniger abrieben.
Auf dem Heimweg wollte ich allein sein. Ich war allein, und doch auch nicht. Ich war in der Lage zu übersehen, was alles zu sehen war. Ähnlich wie ich auf den Plakaten inzwischen, wenn überhaupt
etwas, nur noch Buchstaben und ihre Formen wahrnahm, schnappte ich unterwegs immerzu Sätze auf. So wie ich keine Zusammenhänge auf den Plakaten mehr sah, hörte ich keine zusammenhängenden
Gespräche oder Satzfolgen mehr, wohl aber einzelne Sätze. Die einzelnen Buchstaben, die ich immer wieder sah, ließen mich kalt, die Sätze, die ich hörte, nicht. Ich stieg geradezu ein in jeden
Satz oder Satzfetzen, der mir zu Ohren kam und sagte ihn stumm im Innern nach. Jeder Satz hatte eine Melodie. Die meisten hatten einen Dialekt. Jeder sagte etwas aus über den Sprechenden.
Manchmal hörte ich die Sätze, die zuvor gefallen sein mussten, manchmal hörte ich Sätze, die gleich ausgesprochen werden würden, immer näherkommen. Manchmal hörte ich Sätze, die statt der
ausgesprochenen nicht ausgesprochen wurden. Ich hörte, ob ein Satz am Ende offen oder geschlossen war, ob eine Folgeerwartung ihn hatte entstehen lassen oder das Bedürfnis, einen Punkt zu machen.
Ich hörte protzende Sätze, hilflose Sätze, aufhellende und eindunkelnde; Schreie, in Satzform verkleidet, träumend oder enttäuscht gesungene Sätze. Manche schienen auch nur geträumt und aus
Versehen an die Oberfläche geschwappt zu sein. Obwohl immer nur Bruchstück, jagten sie mir Sinn in den Schädel, ließen ein bekanntes Gesicht in mir aufscheinen oder einen Moment, in dem ich
einmal genauso geredet hatte, oder sie ließen mich im Innern brüllen, es möge doch endlich einmal Ruhe sein!
Wenn dann Ruhe war, nachdem ich meine Wohnungstür hinter mir geschlossen hatte, hörte ich meinen Namen, so wie er damals gerufen worden war, wenn ich das Spielen mit Freunden beenden und zum
Essen in die Wohnung kommen sollte. Ich hörte eine tonale Treppe, absteigend; die erste Silbe fest und klar, die beiden anderen wie Anhängsel ausgesprochen, oder, wie ich nun fand, gesungen. Was
ich nun, Jahrzehnte später, hörte, waren weniger die Silben selbst als ihre Melodie. Oder mir fuhr ein Satz oder der Fetzen eines Satzes durch den Kopf, in dem Verb und Hilfsverb vertauscht
waren. So hatte man in dem Dorf gesprochen, in dem ich meine Sommerferien verbracht hatte – das Spreewalddorf, aus dem meine Mutter kam: Caminchen; oder, in der sorbischen Sprache:
Kamjenki.
Nie wieder mit ihr durch die Kaufhäuser ziehen, dachte ich auf dem Heimweg, und mir sagen lassen, dies oder das stehe mir gut, um dann energisch zu widersprechen. Nie wieder im Kaufhausrestaurant
sitzen, Kuchen essen und nach draußen hinunterschauen. Nie wieder?
Die Mutter hatte schon jahrelang nicht mehr gern gekocht, sie hatte schon jahrelang nicht mehr gern die Sachen weggeräumt, die in der Wohnung herumlagen, sie war fertig mit ihrer
Lebensbeschäftigung, zu dienen, zu machen, was ihr gesagt wurde. Nun machte sie gar nichts mehr, und so hilflos sie auch war, kam mir der Gedanke, sie habe ihr Ziel erreicht. Jetzt machten andere
etwas, fast alles für sie. Oder auch nicht. Sie hat sich aufgegeben, um erlöst zu werden – ich hatte diesen Satz irgendwo aufgeschnappt und fand ihn nicht unzutreffend. Lebensmüde, dieses Wort,
wie falsch es doch gebraucht wird, dachte ich, sie war lebensmüde, aber nicht im Sinne von verrückt, sondern im wörtlichen Sinn.
Dann die Selbstvorwürfe. Man ist der Meinung, zu wenig zu tun und man leidet darunter. Erst mit der Zeit merkt man, dass es den meisten Angehörigen so geht. Dass es gar nicht allein an einem
selber liegt. Natürlich kann man auch zu wenig tun. Aber selbst wenn man tut, was man kann, lebt man mit dem Gefühl und der Gewissheit, dass es nicht reicht. Dass man sich noch mehr kümmern, noch
mehr Zeit nehmen muss.
In Pflegeheimen gibt es eine Minimalunterbringung, von Pflege will ich gar nicht sprechen. Jeder der dort wohnt, braucht eigentlich neben den Heimpflegern noch jemand anderen, der die Arbeit,
auch die psychologische, macht. Die Heimangestellten sind in ein Korsett gezwängt, den "Pflegeschlüssel". Der Plan muss eingehalten werden.
Die Frau konnte keine Wasserflasche mehr greifen, auch sich nicht eingießen. Die Frau musste trinken. Wie kommt sie an Getränke? Die Angehörigen kapieren, dass die Pflegebedürftige nur an
Getränke kommt, wenn sie selbst den ganzen Tag da sind und sich darum kümmern.
Es gibt dann drei Möglichkeiten. Die erste: leiden. Die zweite: nicht vom Bett der Pflegebedürftige weichen. Die dritte: Locker drüberwegsehen, einfach um es sich erträglich zu gestalten.
Über die aktuellen Selbstvorwürfe hinaus kommen dann die weiteren, größeren. Die gehen so: Hätte ich das alles doch früher schon anders geregelt! Hätte man nicht doch eine andere Lösung für einen
Fall wie diesen finden müssen? Man erlebt sich als absolut unfähig und zudem noch als latent verantwortungslos.
Man hatte ins System vertraut. Ins System Pflege. Ins System Pflegeversicherung. Man hätte das nicht tun dürfen. Man hätte früher schon von den Unzulänglichkeiten des Systems wissen müssen. Aber
woher wissen? Auf jeden Fall fühlt man sich als Übriggebliebener Schuld an den Qualen, die der Angehörige zu erleiden hat. Und wenn man sich auch alle faktische Schuld wieder ausreden kann, weil
man sie faktisch nicht hat, so bleibt am Ende dieser Gedankenketten doch das Gefühl des Schuldhabens übrig. Eben weil man der Nächste ist. Und nicht mitansehen kann, wie der einem Nächste leiden
muss und wie ihm jede Würde vorenthalten wird. Da ist dann subjektiv kein Dritter, auch kein System mehr schuld, selbst wenn es ein System ist, das Pflege zu definieren scheint als langsames
Herunterdimmen des Lebenswillens.
Dann geht man wieder und hat das Gefühl, einen Wasserhahn, der Tag und Nacht tropft, für ein zwei Stunden zugehalten zu haben.
Am nächsten Tag kam ich zum Abendessen. Meine Mutter saß wieder im Rollstuhl am Tisch des Gemeinschaftsraums und schaute traurig, selbstbeschäftigt vor sich hin. Sie nahm Schinkenbrote in den
Mund, kaute ein bisschen und tat das Zermalmte auf den Teller zurück. Den Tee trank sie. Sie redete nicht. Auch ich sagte nicht viel. Nach einer Dreiviertelstunde hatte ich keine Geduld
mehr.
Tage später, beim nächsten Mal, hatte ich erwartet, warum?, fragte ich mich, die Frau sei noch weniger geworden, doch kam mir dann das Gegenteil vor Augen. Sie erzählte. Und erzählte. Meine
Mutter hatte zugenommen, drei Pfund, sagte sie; ich dachte, es wären mehr, so gut, wie sie aussah. Sie nahm meine Hand und sagte "Du bist für mich der Liebste, das ist ja das Schlimme". Sie
richtete sich im Bett auf, wozu sie Wochen vorher nicht fähig gewesen war. Sie kenne noch all die Lieder, die sie an den vergangenen Abenden zusammen gesungen hätten, man müsse ihr nur den Anfang
vorsingen; und sie kennte noch die Texte.
Jedesmal, wenn ich an der Rezeption des Pflegeheims ankam, die Hoffnung, sie liege noch in ihrem Zimmer und nicht in einem anderen, das die Endstation bedeutete. Auch beim nächsten Mal lag sie
noch in ihrem Zimmer. Ihre jahrelange Allergie war verschwunden. Sie sah nicht aus, als ginge es ihr schlecht. Holt sie die Ruhe nach, die sie im Leben zuvor nicht gehabt hatte? Sie zeigte mir
ihre Unterarme. Dann zog sie die Bettdecke beiseite und zeigte mir ihre Beine (im Oberschenkel hatte sie einen Schmerz). Damit zeigte sie mir ihre Windeln. Sehen sollte ich, wie sie die Füße
kreisen ließ, was ihr empfohlen worden war. Schön zu sehen, wie sie die Scham verliert, dachte ich. Das dachte ich erst später, im ersten Moment war es mir unangenehm. Dann hatte sie gesprochen
und geschwiegen und geschaut; mit weit offenen Augen in meine Richtung, mich jedoch nicht direkt anschauend, und sie begann schwer zu atmen, bevor sie wieder zu sich kam, kurz aufstöhnte und
weitersprach – freilich an einer ganz anderen Stelle, von etwas anderem sprach. Nicht alles verstand ich. Nicht immer fiel mir eine Assoziation ein, die ihr folgte, die sie bestätigte. Jemand
wohnte dicht am Wasser, was meinte sie damit? Hatte sie vielleicht Angst vor Wasser, machte sie sich deswegen so steif, wenn sie in die Badewanne getragen werden sollte? Aber ihre Scham war ja
noch da: Es gefiel ihr nicht, dass andere Bewohner sie auslachten und über sie tuschelten, wenn sie wieder ein Getränk beim Essen verschüttet hatte. Den Rotwein, den sie neulich tranken, könne
sie gut sehen, wenn sie ihn einschenkt, sagte sie, nur bei helleren Flüssigkeiten treffe sie nicht immer nur das Glas, sondern auch die Tischplatte. Nebenbei erfuhr ich, dass sie bei den anderen
Bewohnern nicht den besten Ruf hatte. Ihr wurde übel genommen, dass sie öfter als die anderen auf ihrer Etage Besuch bekam. Insgesamt wirkte sie entspannter als in den Wochen zuvor, mehr
einverstanden mit dem, was ist.
In meinem Fall war es umso leichter, hinterher Bescheid zu wissen, da gerade um die Zeit, als meine Mutter ihrem Ende entgegengepflegt wurde, das Thema Pflegeheime in die Talkshows geschwappt
war. Zwar tauchten dann, neben den üblichen Verharmlosern aus Politik und Pflegeheimmanagement, immer wieder die gleichen Ankläger auf, aber sie schienen gut organisiert zu sein und sie beriefen
sich nicht auf Einzelfälle, sondern auf tausende. Diese Sendungen begannen so, dass in den ersten Statements jeder einmal einflocht, wie schön es sei, dass wir im Durchschnitt älter würden. Und
sie endeten für mich mit dem Eindruck, dass ich durch ein Schlachtfeld gewatet war. Ein Schlachtfeld als System. Hier herrschte die Systematik der fröhlichen Vernachlässigung, der lockeren
Auslöschung.
Mit der Zeit lernte ich zum Glück, dass ich auf die Selbstvorwürfe obacht geben musste, sie hatten die Fähigkeit, einen zu lähmen, und ich spürte schon, sie können einen auch fertigmachen.
Das hielt mich allerdings nicht davon ab, hin und wieder die Schuld bei anderen zu suchen. Nicht selten machen die verbliebenen Angehörigen einander Vorwürfe, zu wenig zu tun, sich zu wenig zu
kümmern. Jeder, der in diesem Schuldgefühlsgefängnis einmal gesteckt hat, weiß, dass man sich daraus entlasten muss. Es ist gar nicht anders auszuhalten. Der einfachste Weg ist, die Schuld zu
delegieren. Selbst wenn ich der Meinung bin, dass das Pflegeheimsystem hier und da schnell mal zum Tötungsprogramm wird, höre ich darin mitschwingen, dass auch ich eine empfundene Schuld
delegieren muss, und sei es ans sogenannte System. Der helle Beobachter wird den Schuldbrocken noch weniger los als der gleichgültige Sonntagsbesucher.
Weil: das Unerträgliche ist der Tod. Alle wollen alt werden, niemand will sterben. Im Pflegeheim befindet man sich nicht mehr im Machbarkeitsbereich wie zum Beispiel im Krankenhaus. Im Pflegeheim
kann man nicht mehr rational an ein lokales Problem herangehen, um es zu beseitigen. Im Pflegeheim ist man nicht mehr rational. Man kann dort etwas spielen, wenn man kann. Aber dort ist's mit dem
Spielen zu Ende. Dort lautet das Thema Sterben, nicht Leben. All die Ausweichbewegungen, die man sonst draufhatte, führen hier doch immer wieder zum Thema Sterben zurück.
Ich hatte einen Osterstrauß gekauft und ihn ins Zimmer gestellt. Als ich kam, saß sie im Speiseraum. Ich rollte sie hinaus, in den Garten, dann ins Zimmer, wir tranken Kaffee. Danach war sie müde
und ging schlafen, ich blieb zwei Stunden da. Das Thema, das sie am meisten mitnahm, bei dem sie weinte, aber doch nicht richtig weinte, war das Kriegsthema. Diesmal betonte sie, wie die Frauen
in den zerbombten Städten aufgeräumt hätten. Ich glaubte, sie sprach von einer Mitbewohnerin, ich weiß gar nicht, wovon sie sprach, genau, es war aber, wie am Vortag schon, ein Klagen über die
eigene Kriegszeit in so jungen Jahren des Lebens.
Sie sprach unzusammenhängend von der Gefahr in der Nähe des Wassers. Als sei es erst neulich geschehen, schilderte sie mir, dass sie, als sie Mädchen war, gesehen habe, wie ein Junge im Briesener
See ertrunken war. Wieder sprach sie, als müssten ihr gleich die Tränen kommen, sie kamen aber nicht.
Sie sah in der Ferne nur Schwarzweiß. Sie sah aus der Ferne nicht die Farben des Osterstraußes, der auf dem Fenstersims stand. Wenn du dich morgen früh ans Fenster setzt, um dir die Sonne ins
Gesicht scheinen zu lassen, sagte ich, wirst du nah bei den Blumen sein und ihre Farben sehen.
Man stelle sich folgende Situation vor: Sohn oder Tochter einer betagten Dame, die sich im Großen und Ganzen gesund fühlt, drängen bei jedem Treffen erneut darauf, dass deren Mutter sich weniger
mit den Sachen, die ihren Tag verschönern, dafür mehr mit der Zeit danach beschäftigen soll, wenn dies alles nicht mehr möglich ist. Mit einem Menschen über die Schwächen zu sprechen, die er
überhaupt noch nicht verspürt, heißt ja fast, sie herbeizurufen. Daher finden klärende Gespräche über eine eventuelle Pflegeheimzeit so gut wie nicht statt.
Die Peinlichkeit, über die letzte Station zu sprechen, zeigte sich in meinem Fall darin, dass Vater und Mutter sozusagen dichthielten. Sie verschwiegen das Problem, als das Anfangsstadium der
Demenz bei meiner Mutter festgestellt wurde. Erst wenige Monate bevor sie ins Krankenhaus gebracht wurde, wurde die Familie zusammengetrommelt. Da der Vater vorübergehend ins Krankenhaus musste
und die Mutter in der Zeit Hilfe brauchte, wurde die Katze aus dem Sack gelassen. Der Vater sagte, wir, die Kinder, wüssten gar nicht, wie schlecht es der Mutter ginge. Trotzdem redete er fast
das gesamte Treffen lang nur von seinem bevorstehenden Krankenhausaufenthalt. Wie nebenbei legte er die Kärtchen der Neurologin auf den Tisch, zu der wir mit der Mutter gehen sollten, um
Medikamente zu erhalten, die die erste Stufe von Demenz verlängern und das Einsetzen der nächsten Stufe verzögern sollten.
Während der Woche seiner Abwesenheit verbrachte ich jeden Tag bei ihr. Wir fuhren zum Arzt, ich kochte für uns, wir aßen gemeinsam, ich hielt die Wohnung in Ordnung. Nach dem Essen blieb sie gern
sitzen, um den Kopf weit zurück an die Sessellehne zu legen und die Augen zu schließen. Sie machte erst einen spitzen Mund, dann öffnete er sich leicht. So hatte ich sie vorher nie gesehen.
Zwischendurch öffnete sie die Augen und sagte, so zu sitzen tue gut. So hatte ich sie und andere nur später gesehen, im Heim. Es stimmte, dass es ihr objektiv nicht gutging, obwohl sie subjektiv
weniger Probleme mit ihren Aussetzern hatte als ihre Umwelt.
Täglich verließ ich am Nachmittag ihre Wohnung, bis zum nächsten Vormittag. Nach einer Woche war ich erledigt. Zum Abschied stand sie wieder hinter dem Fenster und winkte mir nach. Ich drehte
mich um und winkte zurück, obwohl ich sie vor Tränen in den Augen kaum noch sehen konnte. Als das Fenster außer Sichtweite war, brach alles aus mir heraus. Der Zusammenbruch fand im Gehen statt.
Die vielen Kilometer nach Hause brachte ich zu Fuß hinter mich.
Ja, man muss auf all die Selbstvorwürfe obacht geben, dass sie einen nicht zermalmen. Aber an all diese Gedanken schließt sich dann doch ein letztlich unwidersprochen bleibender Selbstvorwurf an.
Er lautet: Wir hätten einen Plan gehabt haben müssen, um ihr einen sanften Übergang in eine andere Wohnform zu ermöglichen oder um sie in der jetzigen Wohnung besser zu versorgen. Wir haben
diesen Plan nicht gehabt, also haben wir versagt.
Früher hatte ich Menschen in Rollstühlen und Menschen, die Menschen in Rollstühlen schoben, übersehen. Seit ich selber einen geschoben hatte, schaute ich immer ziemlich genau hin, wenn mir so ein
Paar begegnete. Ich schaute immer auf die Füße. Nur selten sieht man jemanden Schuhe tragen, die benutzt aussehen. Nun schaute ich mir auch die lebenslang Behinderten in Rollstühlen an, die ich
sonst durchaus absichtlich übersehen wollte. Ich versuchte mir ein Bild zu machen von der Beziehung zwischen dem Rollstuhlschieber und dem Rollstuhlsitzer. Aber viel mehr noch interessierten mich
die alten Frauen in den Rollstühlen, die ähnlich wie meine Mutter sich in ihren letzten Lebensmonaten befanden. Ich sah die in sich Versunkenen, die traurig vor sich Hinschauenden, jene, die die
Entgegenkommenden betrachteten, und auch jene, die aggressiv waren, weil sie sich gerade schlecht behandelt fühlten, weil ihnen kalt war, weil die Ampel rot war.
Irgendwann auf diesem Weg ging die Kraft verloren, die Kraft der Recherche, des unbändigen Nachfragens, des – auch gegen alle Widerstände – hartnäckigen Dranbleibens. Kurz bevor meine Mutter aus
dem Krankenhaus entlassen und überfuhrt wurde ins Pflegeheim, wollte ich vom behandelnden Arzt, wenn man das überhaupt sagen kann, die Krankenakte sehen, um dahinter zu kommen, wie es zu den erst
im Krankenhaus entstandenen Schäden gekommen war. Ich hatte gehört, als direktem Verwandtem würde mir dies zustehen. Beim ersten Nachfragen war die zuständige Ärztin nicht zu sprechen. Später
sollte ich mich an einen anderen Arzt wenden, mit dem sie sich abwechsle. Den bekam ich einmal zu Gesicht, er wirkte sehr beschäftigt und vertröstete mich. Ein paar Tage später und weitere Tage
später war er überhaupt nicht mehr zu entdecken. Ich hatte den Eindruck, dass sie mit meiner abnehmenden Engagementskurve gerechnet hatten: Erst entschieden, am Ende überfordert durch all die
Dinge, die angeblich dazwischengekommen sind, dass ich mein Recht wahrnehme, das Recht auf Akteneinsicht, stellte ich die Nachfragen irgendwann ein. Denn mein aktueller Schauplatz war ja längst
nicht mehr das Krankenhaus, sondern das Pflegeheim, meine Anwesenheit dort kam mir wichtiger vor als meine Recherche am vorigen Ort. Mein Eindruck: So geht es den meisten. Ein weiterer Eindruck:
Das ist allen Ärzten bekannt. Fazit: Dreimal unpässlich sein, dann hört auch das Nachfragen nach.
Dasselbe im Pflegeheim. Zuständig war die medizinische Leiterin, die am frühen Abend mit einem Tablett mit kleinen Gläsern herumging und den Patienten oder Bewohnern die Medikamente reichte mit
dem Satz "Hier, trink mal deinen Schnaps". Ein Satz zum Darüber-Lächeln; was sollen die Betroffenen sonst auch tun. Für Gespräche hatte die medizinische Leiterin keine Zeit.
Dann Gespräch mit einer Pflegerin, der nettesten von allen, die ich bisher kannte. Aber auch sie konnte oder wollte nichts Genaues sagen. Ihr Argument: Die Arbeitspläne seien so eingerichtet,
dass die Pflegekräfte, um das Stundenlimit einzuhalten, nur eine Woche im Monat arbeiten würden, drei Wochen hätten sie frei bzw. täten sie andere Jobs. Da sie nur zu einem Viertel der ganzen
Zeit anwesend sei, könne sie nichts Umfassendes über den Zustand der Patienten sagen. Nach drei Wochen sähe es im Haus immer wieder anders aus als zuvor. Auch dort ließ mein Nachfragen mit der
Zeit nach. Soll ich recherchieren und analysieren, während ich doch jetzt noch helfen kann?, war meine Frage an mich.
Eines morgens bekam ich einen Anruf: Die Mutter habe einen schweren Schlaganfall erlitten und sei in ein Krankenhaus auf die Intensivstation gebracht worden. Dort läge sie im Koma. Der
behandelnde Arzt sagte, sie werde wohl nicht mehr wiederkommen. Zwei Tage später war sie gestorben.
Man muss über all dies reden. Ich war auf der Suche nach Menschen, die eine Erfahrung ähnlich meiner schon gemacht hatten, oder die in der Lage waren zuzuhören. Aber selbst den guten Zuhörern
versagte bei diesem Thema ihre eigentlich von mir gesuchte Eigenschaft. Das heißt: Zuhören schon, aber dann so schnell wie möglich weg von diesem Thema. Es ist der absolute Stimmungstöter. Auch
wenn ich es anfangs gar nicht merkte: Das Muster wiederholte sich. Ich erzählte und war froh, davon reden zu können. Dann war Pause. Dann war Schluss. Natürlich gibt es diese oder jenen, die
daraufhin sagen, das hätten sie genauso erlebt, aber was erfährt man von jemandem, der angeblich dasselbe erlebt hat? Wobei diese Aussagen schon das Höchstmaß an Teilnahme am Thema
darstellten.
Obwohl ich dies alles, wenn nicht wusste, so doch ahnte, passte ich mich nicht etwa, mehr und mehr schweigend, an die anderen an. Ich musste erst sehen, wie ich jemanden völlig durcheinander
brachte, um endlich defensiver zu werden. Ich für mich hatte ein geändertes Verhältnis zum Tod, auch zum Leben bekommen. Für den einen oder anderen ist das Thema Tod tabu. Man sollte ihn
respektieren. Als ich einmal ein Gespräch mit einem ungehörig direkten Satz beendete (freilich in der Hoffnung, eine Antwort zu erhalten), hatte ich auch dies gelernt.
Vier Letztgesichter: Jenes am Tag vor ihrem morgendlichen Sturz in der Wohnung, rundlich, gutgelaunt und geschminkt. Jenes, als ich im Krankenhaus ihre Totenmaske sah. Jenes, als sie im
Pflegehaus etwas wohler aussah. Jenes, als sie fast weinte, da sie mir eine halluzinierte Geschichte einer Frau erzählte, die im Krieg ihren Mann verlor und so tapfer weiterlebte.
Sie erzählte von einer Frau, angeblich einer Pflegerin, die in jungen Jahren einen Freund hatte, den sie im Krieg verlor, und trotzdem habe sie ihr Leben gemeistert. Das war nicht die Geschichte
einer Pflegerin, das war die Geschichte meiner Mutter. In jungen Jahren hatte sie einen Freund in Riga, sie war als Funkerin dort hinkommandiert, es war 1941, und dieser Mann ist umgekommen, im
Krieg, auf dem Feld. Ihre große Liebe. Von der sie manchmal, früher öfter als später, erzählte.
Nach der Begutachtung des Grabaushubs ging ich zurück zur Kapelle, neben der, wie ich erinnerte, eine Toilette gelegen war. Dort hörte ich den Wasserhahn tropfen. Er tropfte und tropfte die Zeit
weg, ein tropfender Wasserhahn auf einer Friedhofstoilette, dachte ich, ist die Höchststrafe, die gerechte, und am Ende nichts als ein Geschenk, dachte ich dann, wann ist die Welt schon einmal so
ernst zu einem, der so simpel, wie ich es tue, auf einem Klo sitzt, und den Takt, um den es geht, vorgespielt bekommt.
Der erste Wiederauferstehungstraum. Sie in weiß, spricht von den Alten, dass sie halt sterben müssen. Dann sage ich zu ihr: "Aber du lebst ja." Und dann werde ich wach.
(c) Bodo Morshäuser
(Gekürzte Fassung; entspricht nicht dem Sendetyposkript)