Im Frühherbst packte ich meine Sachen zusammen und fuhr nach Berlin zurück. Ein halbes Jahr lang hatte ich in einer norddeutschen Kleinstadt recherchiert. Ich stellte fremden Leuten nach, verwickelte sie in Gespräche und notierte jede Information, die wichtig war – sofern ich die Gespräche nicht mit einem kleinen Gerät in der Brusttasche meines Hemdes komplett aufgenommen hatte. Mit der Zeit war ich so gut informiert, dass ich gern nachhalf, wenn einem Informanten irgendein Datum oder Name nicht einfiel. Ich hatte sie alle im Kopf. Sollte ein bestimmter Name nicht erwähnt werden, so wusste ich ihn meistens doch schon. Es hatte etwas Peinliches, so gut informiert zu sein über das Leben anderer Leute. Ich könnte auch für einen Dienst arbeiten, dachte ich.
Mit einem vom Dienst, vom Verfassungsschutz, wollte ich seit Monaten reden, aber er war noch nicht bereit dazu. Alle paar Wochen rief ich ihn an mit der Bitte, mir ein paar Fragen zu beantworten. Abgelehnt. Ich sagte dann immer, ich würde später wieder anrufen, und er hatte nie gesagt, ich solle das unterlassen.
In Berlin schrieb ich meinen Bericht über mordende Skinheads und gewöhnte mir wieder das Fernsehen an. Auf den Frühling der Wahlfälscher war der Sommer der Flüchtlinge gefolgt, und der Herbst der Botschaftsbesetzer machte jedem klar: es war das Jahr einer unglaublichen staatlichen Passivität. Ich liebe Ambient-TV. Ich liebe Weltgeschichte in Echtzeit im Fernsehen, mit allen Pausen, und gefüllt mit dem Nichtigen, das weggeschnitten gehört. In jede Ereignislosigkeit ist man anders hineingegangen als man aus ihr herauskommt, dachte ich.
Die Liebe zu Ambient, zum Rohen, zum scheinbar Ungeschnittenen, gar Unproduzierten wurde in mir nicht entfacht, sie wurde erinnert. Ambient war, hier oder dort, immer schon. Im DDR-Fernsehen sah ich nun etwas, das ich früher mehr als einmal gesehen hatte. Große Ambient-TV-Stunden in den sechziger Jahren: Live-Übertragungen von Fußballspielen, mit einem zwei Stunden lang fast wortlosen Kommentar des Fernsehbeamten Fritz Klein. Eher als mit seinen Worten, hatte man es mit seinen Selbstgeräuschen zu tun, in die Fragmente seiner Selbstgespräche unmerklich eingebettet waren. Wie modern: man schien nun im Fernsehen nach dem Stress der frühen Jahre einfach die Zeit vergehen lassen zu können. Vor aller Augen! Welcher Wohlstand!, welcher Überfluss! Vormittags zwei Stunden Rudern! Nachmittags drei Stunden Springreiten! Dazu Kommentatoren, die so intim sprachen, als säßen sie neben einem. Wulf Seelmann-Eggebrecht! Erst als das Fernsehen keine Sekunde ohne Wort oder Musik mehr zuließ, als es sich das Rohe verbot und jede Sendesekunde an- oder aufkochte, hatte Ambient-TV fürs erste seinen Zweck erfüllt und war beendet.
Aber welche Fernsehstunden waren dem Ambientfreund noch geschenkt worden, bevor das Fernsehen kapiert hatte, dass es, egal, was gesendet wird, einfach nur Fernsehen machen muss!, dachte ich, als DDR-Ambient längst imgange war. Der Besuch von John F. Kennedy in Berlin wurde fast komplett live übertragen. Von mittags bis zum späten Nachmittag stand Adolf Eichmann, der so aussah wie alle älteren Männer damals, in seinem Käfig in Jerusalem und gab seine bemühten Antworten. Die bildlich völlig ereignislose Übertragung von der Bergung der Verschütteten in Lengede dauerte, so erinnerte ich mich, mindestens drei Tage. Die Mondlandung hatte in meiner Erinnerung eine ganze Woche gedauert.
In den siebziger Jahren, fiel mir dann beim DDR-Ambient-Zugucken ein, zog das Ambient-Feeling rüber ins Kino, in viereinhalbstündige Filme, bei denen zwischen einer Frage und ihrer Antwort gefühlte zehn Minuten vergingen, währendderer sich Fragesteller und Antwortgeber vielfältig vielsinnig anschauten und die Zuschauer mehr Zeit zum Mitdenken hatten als ihnen lieb war. Im Film war mit Ambient bald keine Mark mehr zu verdienen, Kritik am Modernisierungsschub hatte mit modernen Mitteln zu geschehen. Der Stilwirrwarr der Popmusik Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre rief geradezu nach einer ausgeruhten akustischen Ambient-Nische – und Brian Eno richtete sie ein.
Nun, Ende der achtziger Jahre, war Ambient wieder ins Fernsehen zurückgekehrt. Nur im versteiften, parteihörigen Fernsehen der DDR konnte Ambient noch zu etwas werden, und das ungeheuerlich Moderne, das mit Ambient-Bausteinen dort noch nie gesehene Wirklichkeit wurde, war das Erlebnis der unzensierten öffentlichen Rede.
Mitte Oktober konnte ich nicht ahnen, dass es noch drei Wochen dauern würde, bis der Informant aus Norddeutschland mich wieder anrufen würde. Mitte Oktober konnte ich noch nicht ahnen, dass der Rücktritt Honeckers bereits der Beginn von etwas Neuem war und nicht das Ende von etwas Altem. Ab Mitte Oktober traten sie dann alle auf, täglich, roh und ungeschnitten: Parteisekretäre, Gewerkschaftssekretäre, Regimekritiker und andere Verbesserer. Im Dialog miteinander, wie es hieß. Ab Mitte Oktober, und dank Krenz, verging keine Viertelstunde, in der im DDR-Ambient-TV nicht zum Dialog aufgefordert wurde. Und die Angesprochenen erwiderten darauf, dass auch sie nun zum Dialog aufforderten. Eine Zeitlang bestand DDR-Ambient-TV aus diesen beiden Monologen.
Ambient wäre nicht Ambient, wenn es dem Konsumenten nicht alle Zeit der Welt ließe, seinen eigenen Gedanken und Vorstellungen nachzuhängen, egal was auf der Bühne gespielt wird. So vertiefte ich mich wochenlang in die Frisuren der Partei- und Gewerkschaftssekretäre, der Regimegegner und Verbesserer, und abwechselnd dazu vertiefte ich mich in die Sprache, die sie benutzten, genauer: in ihre Aussprache. Die einen übten sich in sächsisch/thüringischem Hochdeutsch, die anderen berlinerten, wie ich es lange nicht mehr gehört hatte. Sie hatten dort auch andere Frisuren als im Westen. Täglich studierte ich sie wie einen fremden Stamm.
So vergingen die Tage und Wochen. Westfernsehen war Zweitfernsehen geworden. Geschichte schrieb sich im Ostfernsehen fort und fort. Vormittags Zusammenfassungen von Ereignissen der Vortage. Jeden Mittag und Nachmittag Dialogsitzungen vor laufenden Kameras. Täglich trat jemand zurück. Täglich musste irgendein Vakuum gefüllt werden, im Dialog natürlich. Fast jeden Abend Pressekonferenzen.
Ich sah einen kontrollierten Hunger und eine kontrollierte Sattheit. Alle Dienstler waren noch im Dienst. Es pokerten die, die noch nicht gewonnen hatten, gegen die, die noch nicht verloren hatten. Wie kriegten die Sekretäre nur diese Frisuren hin? Scheinbar natürlich wuchsen ihnen die Haare von der Stirn an in drei vier breiten Wellen streng nach hinten, in einem Dunkelgrau, das vom Grün und manchmal auch vom Gelb zu borgen schien. Ihnen gegenüber beim Dialog-Pokerspiel Männer mit Vollbärten, Seitenscheiteln und langen Strähnen über einer Gesichtshälfte. Hatte ich solche Bilder nicht zwanzig Jahre vorher schon einmal gesehen? Aber Ambient kam im Westfernsehen bis zur Einführung des Senders Phoenix nicht mehr vor.
Es muss nicht Ambient-TV sein, dachte ich, es könnte auch Militärfernsehen sein oder jeden Tag werden. Überhaupt: wann würde es mit der Gewalt anfangen und wer würde beginnen oder sich provozieren lassen?
Ambient macht ein bisschen gleichgültig. Alles scheint gleich wichtig zu sein. Ab und an kann man beim Zuhören oder Zuschauen einfach müde werden. Ambient hindert einen daran nicht. Mein norddeutsches Thema entfernte sich von mir, ich konsumierte jeden Tag Geschichte, die, wie in meinem Umkreis regelmäßig festgestellt worden war, der Vergangenheit angehörte. Zwar hatte ich mich längst an den Jargon dort gewöhnt, doch war es immer noch schwierig, die Politbüro-Mitteilungen vom Abend wirklich zu verstehen; sie waren in einer Sprache verfasst, die der Vergangenheit angehörte. Auch am 9.November sah ich die abendliche Pressekonferenz, live übertragen, also einschließlich des Wartens, bis alle Podiumsplätze besetzt waren, viertelstundenlanges Warten, absolutes Ambient-TV. Man hörte Sätze, die man nicht hören sollte. Man sah Beteiligte in Positionen, die man nicht sehen sollte. Im Grunde verständlich, dass dann auch Dinge verlautbart wurden, die gar nicht gesagt werden sollten. An diesem Tag packte ich wieder meine Tasche, für nur ein zwei Tage.
Der Mitarbeiter des Verfassungsschutzes hatte sich endlich zu einem Gespräch bereiterklärt, allerdings unter der Bedingung, dass es noch am selben Tag, genauer am späten Abend stattfinden müsse, in Hamburg. Um sieben Uhr saß ich neben der gepackten Tasche und wartete auf die Pressekonferenz im Ambient-TV. Journalisten fragten, Politiker gaben Rätsel auf. Ich verstand sie von Tag zu Tag weniger. Das Ambient-Feeling hatte in meinem Innern alles gleichgemacht. Ich hörte Schabowski zu und hörte nichts neues. Ich hatte das Gefühl, dieselbe Veranstaltung schon einmal gesehen zu haben. Hatte es nicht schon öfter geheißen, DDR-Bürger dürften ausreisen? Gegen Vorlage irgendeines Dokuments? Ich fuhr los.
Wenn ich mit jemandem telephoniert hätte! Wenn ich das Autoradio eingeschaltet hätte! Wahrscheinlich war ich am Grenzkontrollpunkt Stolpe der einzige, der nicht Bescheid wusste. Und all die anderen, die Bescheid wussten, zeigten es noch nicht. Es war absurd und fühlte sich völlig normal an. Lockeres Ausweis-Hin-und-Her-Schieben an der Grenze. Der Stress war aus diesem Vorgang schon lange raus. Jüngstes Personal, das Mützenschild nicht vor der Stirn, sondern irgendwo hinten auf dem Scheitel, lustig in die Höhe zeigend. Die Autobahn, bis auf die Lastwagenkolonnen, wie leergefegt. Am Kontrollpunkt Zarrentin dudelte leise Radiomusik aus dem Kontrollhäuschen. Kurz vor Hamburg präparierte ich mein Aufnahmegerät und steckte es in die Brusttasche des Hemdes.
"Seid ihr wahnsinnig?" Am Berliner Tor in Hamburg sprang ich aus dem Auto und brüllte eine Gruppe an, die ich um ein Haar über den Haufen gefahren hätte. Sie lachten mich an, hoben ihre Sektflaschen und rannten weiter.
Der Schreck über den Beinaheunfall hatte meine Glieder taub gemacht, ich parkte und ging um zwei Häuserblocks. Wieder im Auto, machte ich das Radio an. Jetzt wusste auch ich Bescheid. Über Berlin. In Hamburg.
Wir trafen uns in einer kleinen Bar. Am Ende des Gesprächs sagte er: "Gehen Sie davon aus, dass dieses Gespräch, wenn jemand danach fragen würde, niemals stattgefunden hat."
(c) Bodo Morshäuser