Rotbuch Verlag, Berlin
72 Seiten, Kartoniert
ISBN 3-88022-212-6
"Es sind Berliner Gedichte, aber nicht im Sinne von Günter Bruno Fuchs oder Thomas Brasch: Sie sind geprägt von der genauen, ja intimen Kenntnis eines Milieus, der Westberliner Rock- und Drogenszene, das - abgesehen von seiner schnellen Vermarktung in Illustriertenromanen- in unserer Literatur noch nicht vorkommt ... In den am besten gelungenen Texten des Bandes verdichtet sich die Hoffnungslosigkeit zur Kunstleistung - und gibt damit Anlass zu neuer Hoffnung: die poetische Beschreibung des Elends ist der erste Schritt zu seiner Überwindung."
Hans Christoph Buch
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Blues in der Mittagspause
Er kommt herein
zieht die Haare aus dem Gesicht
und hat sie mit einem streifenden Blick
als "seinen Typ" erkannt.
Sie schaut ihm interessiert zu
(was er sieht) und geht mit der Zigarette
auf den Aschenbecher los, als dieser
streifende Blick von ihm kommt.
Er ruft dem Kellner seine Bestellung zu
und schaut auf das Fenster zur Straße
auf dem er sie in Ruhe betrachten kann
(was sie auf einem anderen Fenster sieht).
Auch sie bestellt einen Weinbrand
und schaut auf eine andere Fensterscheibe
in der er gut beleuchtet sitzt
(was er längst weiß).
Er entdeckt nach dem dritten Weinbrand
ein näher gelegenes Fenster, in dem sie
ausführlicher sitzt (was sie nicht weiß)
und mit Streichhölzern kämpft.
Sie zahlt zwei Bestellungen später
drückt die letzte Zigarette aus
und verlässt das Lokal
durch alle vorhandenen Scheiben.
Abflug am Morgen
Licht durch die Vorhänge, dort
stand die Reisetasche, nun schwebt sie
mit dir über den Wolken. Du bist abgeflogen
am Morgen vor deiner Ankunft, wie immer.
Sehnsucht davor und Sehnsucht danach. Du?
Kamst und gingst, färbtest in der Zwischenzeit
die Haare und warst aufs neue dieselbe Eine.
Keine Erinnerung an ganze Jahre, nur Ankunft
oder Abschied, das sind die haltbaren Gefühle.
Hier die Reste unseres letzten Frühstücks -
ich werde abwaschen, Gläser und Tassen
in die Reihe stellen für das nächste
mit dir, nein mit dir, egal - Konfetti,
der ganze Flitter gestanzt aus einem Bogen.
Das reicht für keine Liebesgeschichte,
das reicht für keinen Mord. Da
taucht deine Maschine im Nebel weg.
Tolstefanz, Sächsische Straße
Woher sie kam, wohin sie ging?
Sie wartete aufs Morgenblau
im großen Fenster
weißes Pulver in den Taschen
wir teilten was wir hatten
von Mitternacht bis Vier
waren sprachlos krank
genossen kaum und litten auch nicht
Gehen durch Filme
ist unser Zustand
wie aus dem Leben gegriffen
wenn ein Film abläuft
vor dir und mir und wir
wieder zur Zuschauer sind
und weiterhin warten
auf die Bilder
von der einfachen Macht
über uns selbst
und weiterhin warten
auf den Film
den wir fleißig versäumen
(c) Bodo Morshäuser
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