Die Gehwege in ihrer Wohnstraße sind alt und bestehen aus einer Reihe schwerer Charlottenburger Granit-Krustenplatten, bis zum Haus- und Straßenrand umrahmt von kleinen Sandsteinen, das typische Berliner Muster, auf breiteren Bürgersteigen mit zwei Plattenreihen. Die Breite einer Krustenplatte gibt Platz für einen Menschen. Hier muss einer von zwei sich Begegnenden auf die kleinen, uneben gehämmerten Sandsteine ausweichen. Manche tun das einfach, andere beharren auf ihrem Weg, Unentschiedene haben ein Problem, weil sie es zu einem Problem erklären. Sie möchten weder die selbstverständlich Ausweichenden sein noch als rücksichtslos erscheinen. Wer die Frage Ausweichen oder nicht als Statusfrage versteht, geht täglich auf dieselbe Fragestellung zu und lässt sich von der Antwort eher überraschen als sie selbst herbeizuführen. Die Frage Ausweichen oder nicht war für sie unerschöpfliches Knobelgebiet. Sie verstrickte sich mit Unbekannten in imaginierte Raumkämpfe, als müsse sie bei jedem Gang durch die Stadt Terrain erobern, das ihr wann auch immer genommen wurde. Manchmal lese ich einzelne Passagen in zwei Heften, die ich aus ihren Heftregalmetern gezogen habe. Eines stammt aus der Zeit, als sie die Geschäfte der das Haus sanierenden Bewohner führte, Aufträge erteilte, ausgeführte Arbeiten abnahm und Plenen protokollierte, einer aktiven Zeit, sie hatte genug zu tun, um überflüssige Konflikte zu meiden. Vermutlich schrieb sie die Einträge abends, oft schildert sie den Ablauf eines Tages. Nach dem Lesen verschiedener Passagen sehe ich ein Muster. Sie geht morgens aus dem Haus, um Kleinigkeiten zu erledigen, sie erwähnt ihre Stimmung in diesem Moment. Manchmal soll die Welt umarmt sein, manchmal verdammt. Dann geschieht ein quer zu ihr stehendes Ereignis, jemand weicht partout nicht aus, jemand braust mit hohem Tempo durch die Straße, und sie verliert ihr Gleichgewicht und kann oder will mit dem frischen Tag nicht mehr viel anfangen, die weltumarmungsbereite Stimmung ist nicht nur unterbrochen, sie ist geradezu vernichtet worden durch irgendjemand Fremdes. Ebenso sind gegenteilige Abläufe notiert. Gute Stimmung am Morgen, freundliche Gesichter unterwegs, ein vergnügliches Wiedersehen mit einem alten Freund, alles ist gut. Tag für Tag setzt sie sich dem Gemenge von eigener Stimmung und Interpretation fremden Verhaltens als Grundlage ihrer Verfasstheit aus. Als erwarte sie, dass Innen und Außen ineins gehen; wenn nicht: Verstimmung. Das andere Heft ist eines ihrer letzten. Mit dem ersten Corona-Lockdown ließ sie, nicht ungern, die Taxe stehen. Die beste Zeit in diesem Job war vorüber, er machte ihr kaum noch Spaß. Eine vor Jahren scheinbar gut verlaufene Operation zeigte Nachwirkungen, die Laborwerte wurden schlechter. Sie nahm Medikamente und ließ die Werte regelmäßig kontrollieren. Haarausfall machte ihr Sorgen. Sie schaffte Mützen an, schneiderte einige selbst. Manches im Haushalt wuchs ihr über den Kopf. Was sollte mit dem alten Zweitwagen geschehen, der vor sich hin rottete? Was mit dem verwitternden, vor wenigen Jahren neu gekauften Fahrrad? Wo anfangen, um im Keller einen Überblick zu bekommen? Wenn wir uns trafen, redete sie darüber. Ich machte Vorschläge und bot Hilfe an. Nie kam sie darauf zurück. In ihrer Küche stehend sehe ich, die Macht der Dinge kam ihr bedrohlich nah. Die Klage darüber ist an die Küchentür geheftet: "Immer muss man alles selber machen."
19. Juni 2024