Tageslicht 8

Jeansweste

Du musst im Hier und Jetzt leben

Nur so kommst du an, bist du bei dir

Dem Kosmos nahe

Brumm

Daran hat geglaubt, wer nicht Steuerberater oder Müllmann gelernt

oder gefixt hat. Hier und Jetzt, bloß nicht Dort, Gestern oder Morgen

Lieber anschlusslos dösen und spüren, wie das Chillum schwillt

Habe versucht, von Leuten, so alt wie ich,

was über Eltern zu hören und die Arbeit während des Krieges

Kaum jemand will sich erinnern

Sie erzählen Geschichten von Rockkonzerten, LSD-Parties

bekifftem Abhängen in Innenstädten

Lieblingsvergangenheiten

Lass niemals eine andere Sonne auf dein Leben scheinen

Lass niemals wirklich Wetter werden

Die ewigen Bewohner des Hier und Jetzt setzen sich um 18 Uhr

in die Kneipe und erzählen was mit langen Haaren, dann kurz

mal vor die Tür, um einen zu rauchen wie damals

Eingesperrt im Hier und Jetzt

das ewige Hefeweizen vor sich

dazu die ewig gleichen Geschichten

Sind keine neuen dazugekommen

auch nichts zum Anziehen

Also jeden Tag Jeansweste

25. Januar 2015

 

 

Früher Abend

Vor dreißig Jahren waren wir nachts in denselben Lokalen unterwegs, wir sahen uns fast so oft wie unsere Freunde, aber hatten nichts miteinander zu tun, haben uns wahrscheinlich niemals unterhalten, immer nur gesehen, zur Kenntnis genommen, nicht abgeneigt, nicht zugeneigt. Gestern in einem Restaurant schaue ich lange in ihre Augen wie früher nie, und frage mich: Ist sie von damals es wirklich? In welchen Lokalen sind wir uns begegnet? Waren es nur Lokale? War sie die Freundin einer Freundin? War vielleicht mehr zwischen uns? Sie schaut genauso lange in meine Augen, sie hält den Blick, ich weiß nicht warum, bis ich merke, es ist mir egal, warum, wir waren die Nacht, jetzt sind wir der frühe Abend und schauen uns erwachsen an, betrachten das älter gewordene Gesicht, blicken nicht auf eine bestimmte Zeit zurück, sondern spüren ein Gefühl für Zeit. Es fühlt sich gut an. Sie bleibt ruhig im Gespräch mit einer Freundin, ich schaue in ihre Augen, sie in meine, und fühle mich aufgehoben. Wir verweilen beieinander wie früher nie. Als sie mit ihrer Freundin geht, verabschiedet sie sich freundlich, lächelt und winkt, wie früher wohl nie. Oder doch?

9. Januar 2015



Zitat 1992

Wenn der Schlips vor Scheinwerfern “Ausländerbegrenzung” fordert, löst der Stiefel sie in der Dunkelheit ein. Dass aus Wörtern Taten geworden sind, will der Schlips danach nicht mit sich selbst in Zusammenhang gebracht wissen; und doch ist der schnelle Stiefel dem Schlips Anlass, seine Forderung nach “Ausländerbegrenzung” – nun mit dem Hinweis auf zunehmende Gewalt – zu wiederholen; was für den Stiefel wiederum Ansporn ist … woraufhin ... So arbeiten konservative Politiker und gewalttätige Rechtsextremisten sowie ihre Helfer, mit und ohne Wissen, Hand in Hand.

(Quelle: Bodo Morshäuser, Hauptsache Deutsch)


 

Reichlich. Haltbar.

Viel zu lange habe ich in die Büros und auf die Schlachtfelder geschaut, zu den Opfern zuerst, was die mehr oder weniger natürliche Reaktion des Heranwachsenden ist, zu den Tätern dann, sie liefen herum und wollten mir sagen, wie Leben geht. Der junge Erwachsene wollte lernen, auf welche Weise das alles einmal geschehen war, geschehen konnte, sich wiederholen könnte. Viel zu lange habe ich mich hineinversetzt ins Kriegserleben meiner Eltern, was lächerlich und zum Scheitern verurteilt ist, habe mitgefühlt, vielleicht sogar irgendwas gelernt, und habe nachgefühlt. Eines Tages dämmert dir, es ist nicht deine Aufgabe, dich lebenslang damit zu befassen. Ich mahne und warne mich nicht mehr. Ich bin absolut gemahnt und gewarnt, bin vom Mahnen und Warnen durchgefickt worden, weil ich mich habe ficken lassen, es gehörte dazu, sich eine Schuld reinzuschieben. Jetzt aber habe ich wieder Lust. Bye bye Schuld. Auch wenn ich es immer bleiben werde, bin ich mehr als das Kind meiner Eltern.


Es gab Zeiten, da fixierte ich irgendwen so lange, bis ich wusste, was mir am anderen missfiel. Durch bloßes Hinschauen legte ich mir egal-wen für eine Fundamentalkritik zurecht. Ich konnte Opfer erschaffen und den Ungnädigen, den toten Vater in mir zum Leben bringen. Nichts leichter als das.


Was habe ich bloß mit diesem verdammten Dritten Reich zu tun? Um dieser Frage nachzugehen, könnte man einen Roman schreiben. Kann sein, Leute wie ich sorgen dafür, dass das Dritte Reich nicht so schnell verschwindet. Kann sein, Leute wie ich sind ein Teil des Reichs, natürliche Erben, blasse Fortsetzer, in frühen Momenten seitenverkehrt handelnde Abziehbilder der gestorbenen Originale. Heute handeln wir nicht mehr plump seitenverkehrt, wie wir es als Jugendliche getan haben, heute folgt auf Nein nicht prompt Nun erst recht. Wir haben dazugelernt. Wir lassen uns nichts mehr einreden. Wir haben uns reichlich unkenntlich gemacht als natürliche Nachkommen der Krieger, auch unkenntlich gegenüber uns selbst. Es ist Nach-Nachkrieg, und scheinbar alles vorbei. Doch ist nichts vorbei, so lange nicht wir vorbei sind. Der tote Vater ist nicht tot, er stirbt empörend langsam, nämlich von Generation zu Generation nur ein klitzeklein wenig mehr. Na und? Was habe ich damit zu tun?


Kann sein, der Weltkrieg hat sich von den Schlachtfeldern und Kommandozentralen, von den Nachkriegsfamilien verzogen in jeden einzelnen der Übriggebliebenen. Kann sein, die nicht tot zu kriegenden Nachzuckungen des Kriegs finden nicht mehr draußen, sondern drinnen, zum Beispiel in mir statt, wo die Eltern einfach nicht tot zu kriegen sind. Kann sein, der Krieg tobt jetzt zwischen Haarwurzeln und Zehennägeln. Ich weiß es nicht. Aber ich spüre was. Nicht immer, und nicht immer heftig, aber ab und zu, und selten nur bin ich ganz ohne. Selbst ein Frieden will erkämpft sein. Nein, der Krieg tobt nicht. Er pocht und puckert, mal mehr, mal weniger, mal schneller, mal langsamer. Mein Puls ist absolut unverdächtig, unauffällig und zuverlässig.

27. Dezember 2014



Wer ist heute schuld an mir?

Die Stadt ist durch den Streik der Lokführer keinesfalls gelähmt, wie hier und da zu lesen ist, er stellt auch keinen Anschlag auf das öffentliche Leben dar. Er bringt es erst richtig in Fahrt. Kein Krieg in Syrien, im Irak, keine Toten in der Ukraine mehr, vergessen Ebola, es gibt nur noch Streik und Reporter an Bahngleisen auf allen Kanälen. Von der Gehaltsforderung erfährt man wenig, viel dagegen über den geschätzten Verlust der Bahn.


Ein Mann und eine Frau, mittelgut angezogene Angestellte, wie es aussieht, verlassen laut streitend die überfüllte U-Bahn, er immer lauter werdend die Treppen hinauf hinter ihr her, bis zur Straße hoch, von ihr ist nichts zu hören. Plötzlich bleibt sie stehen, dreht sich um und schimpft genauso laut wie er. Er setzt zum Schlag gegen sie an, sie bleibt reglos offen stehen. Seine Hand verschwindet in der Manteltasche, er faucht einen unverständlich-vorsprachlichen Fluch, dreht ab und marschiert mit hochgezogenen Rechte-Winkel-Schultern mir entgegen, dem er jetzt die Fresse polierte, käme ich ihm in die Quere.


Beim Abendessen im Restaurant an allen Tischen, die Gesprächsstücke senden, das Thema Was ist heute schiefgelaufen? Stell dir vor! Die hat es doch gewagt … Und der war sich nicht zu blöd … Und dieses ist unmöglich, und jenes geht nun gar nicht, und das und das versteh ich nicht … Allgemeines Kopfschütteln der Berichterstatter über irgendwelche andere, die stressen und nerven, um zwei der meistgenutzten Verben zu nehmen. Im ganzen Raum eine gleichmäßige Erregungstemperatur über diese Versager, Im-Weg-Steher, Falschmacher, Danebenbenehmer. Kein Wort von Druck und Zwang, Angst und Rage. Lieblingsfeind ist der andere ähnliche, Leute wie die, die hier sitzen und sich schwer beschweren über Leute wie sich.

10. Dezember 2014



Die Sprache, die wir verstanden

AFN ist nicht meine Sache, ich verstehe amerikanische Musik nicht. Meine Sache sind eine tägliche Dreiviertelstunde Radio France Musique und ein paar Shows im BFBS. Im Januar 1969 haben die Freunde meiner Schwester mit der Revolution zu tun. Ich bin keine siebzehn, stehe im Sportpalast auf einem Holzstuhl und sehe mein erstes Rockkonzert. Vor mir Jimi Hendrix, Noel Redding und Mitch Mitchell. Reddings Bass ist die Initiation in ein Leben mit Musik, das sich zu Anfang total taub anfühlt. Während der Sekunden zwischen den Songs spüre ich, dass ich nichts mehr spüre. Hat die Musik Pause, habe auch ich Pause. Wäre ich nicht bei diesem Konzert gewesen, ich wäre ein anderer geworden. Die Schwester eines Freundes bewacht in der Philharmonie den Musikereingang. Wir sind Stammgäste der Berliner Jazztage.

 

Ein Jahr lang gehen wir fünfmal die Woche zur Filmbühne am Steinplatz, in die Lupe oder ins neue Arsenal und schauen alte und neue Filme an. Im Frühjahr 1970, beim ersten Berliner Auftritt von Pink Floyd, hat jemand an die Tafel des Audimax der TU vorn geschrieben Let's have some Marijuana. Es wäre nicht nötig gewesen. Von Beginn an steht eine Haschischwolke im Saal und wird stetig aufgefrischt. Sie spielen die Platten Umma Gumma und Atom Heart Mother. Keine Lightshow. Klares Neonlicht. Hätte ich Hendrix nicht gesehen, wäre ich heute zwar ein anderer, aber hätte ich Pink Floyd versäumt, wäre ich ein ganz anderer geworden. Was ich in diesen Jahren an Musikmoderne höre und an Filmmoderne sehe, wird nicht ungültig. Diese Sachen werden klassisch.

 

Jimi Hendrix murmelt ein paar Songtitel von weitem ins Mikrofon. Pink Floyd sagen kein einziges Wort. Sie kommen, spielen und gehen. Das ist genau die Sprache, die wir verstehen. So war die Kindheit, so sind die Alten, so ist, nicht mehr lange, das Land. Die psychedelische Musik und die Haschischwolke im Audimax formen unsere Biografien für Jahrzehnte. Die traurigen jungen Menschen wollen nicht aufgemuntert werden, sie wollen ihre Trauer vertiefen, um sie loszuwerden. An diesem Abend werden die Mittel dafür verabreicht. Diese Musiker sind unsere Leute, ihre Lieder unsere Tonspur. Wir sind geboren.

 

Erster Geburtstag im folgenden Jahr, wenn Pink Floyds Surround-Anlage im Sportpalast steht und das LSD-Gefühl verfeinert. Zweiter Geburtstag im nächsten Frühjahr, sie kommen immer im Frühjahr. In der Deutschlandhalle spielen sie Dark Side Of The Moon und erste fertige Stücke von Wish You Were Here. Mehr geht nicht, denken wir, und es ist nicht wahr.

21. November 2014

 

 

Sinnlose Ratschläge für Berliner

Du musst nicht deine Kippe auf ein Kabriodach werfen

Du musst nicht dein Zufallsnebenan belehren

Du musst nicht den Fremden beleidigen

Den Begehrten belästigen

Den Ungeliebten fixieren

Du musst nicht jammern

Du hast keine Wahl

 

Du musst nicht die Brokkolikiste des Türken wegtreten

Du musst nicht die Ausgestrahlten angaffen

Du musst nicht Verkehrsregler spielen

Du darfst dich nicht gehenlassen

Du sollst dich nicht belehren lassen

Du musst nicht jammern

Du hast keine Wahl

 

Ach jammer noch ein bisschen zur guten Nacht

So schlaf ich besser

 

Wie lange hast du für zwei Kilometer gebraucht?

Was hat die Schlampe gesagt?

Die Telefonrechnung ist ein Witz

Das Auto defekt, im Mantel ein Loch

Die Blöden von drüben, die wissen nichts

Die Blöden von drüben, die nichts wissen

Erst zuschlagen, dann die Deckung öffnen


Keine Zeit für schönes Wetter


16. September 2014

 

 

Das könnte euch so passen

Wir sind aus der alten Zeit, wir haben für die Zukunft gekämpft.

Jetzt spazieren wir in ihr umher. Fühlt sich nicht schlecht an.

Du musst es nur merken. Es ist ein Desaster. Wir haben nichts erreicht.

Ja, wir lebten in der Zukunft. Die Zeit war leider nicht so weit wie wir.


We want the world and we want it now, sprach unser Sänger.

Nein, er kreischte. Die Band setzte ein. Warm floss der Song dahin.

Wir sagten wir und meinten nicht alle. Schulten dann um zum Ich.

Ich bin der Größte, brüllte der beste Boxer aller Vergangenheiten.


Es gibt Utopia nicht bei Google Earth, es gibt nur Google Earth.

Das soll jetzt alles sein. Vielleicht. Danke für den Hinweis. Tschüs.

Gestern habe ich nach der Zukunft gefragt. Der bescheidene Bescheid:

Alles kann so bleiben. Nur schlechter solls nicht werden


Damit kann man Staat machen. Ich bin zum Jetzt-gleich geschrumpft,

habe noch drei Stück am Lager und bin noch dreißig Sekunden da? Wo?

Dahinter ist nichts? Morgen wieder nur noch drei Stück am Lager

und noch dreißig Sekunden da? Herzlichen Globalwunsch.


Es soll nichts weiter sein als das, was ist. Das könnte euch so passen.

Es wird schon werden. Wieder weiß keiner, wie es aussieht, ehe es da ist.

In dem weiten leeren Land hinter der Völle, die dich und mich bevölkert,

sehe ich eine Welt hinter der Welt. Wie im Gesicht des Handyfummlers.

 

9. September 2014